Die Stadt der Heiligen (German Edition)
hören, die mit lieblicher Stimme ein Liebeslied sang. Langsam trat er näher, blieb jedoch in einiger Entfernung stehen, als die volltönende Stimme eines Mannes in den Refrain einstimmte. Von seinem Platz aus konnte Christophorus die Überraschung auf Marysas Gesicht ablesen und dann die Freude über den gemeinsamen Gesang.
Diesen Ausdruck in ihren Augen hatte er schon an jenem Tag wahrgenommen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Während sie sang, schien sie die Welt um sich herum zu vergessen. Ihr Gesicht, das zwar fein geschnitten war und dennoch seltsam herbe Züge trug, wandelte sich zu einer ungeahnten Zartheit.
Je länger er sie betrachtete, desto mehr schien es Christophorus, als würde Marysa von innen heraus strahlen. Als er sich dieses Gedankens bewusst wurde, runzelte er die Stirn. Was war das für eine merkwürdige Regung, die sich da in ihm breitmachen wollte? Hinfort damit! Er schüttelte sich wie ein nasser Hund und rief sich in Erinnerung, weshalb er hier war.
«Ich glaube, wir haben weitere Gesellschaft bekommen», sagte Bardolf, als sie das Lied beendet hatten, und wies auf den Dominikaner, der nun näher trat.
«Bruder Christophorus.» Der entrückte Ausdruck in Marysas Augen wich und mit ihm alle Zartheit, die sich vorher in ihrem Gesicht abgezeichnet hatte.
Kühl musterte sie ihn. «Was führt Euch zu uns?»
«Keinesfalls der Wunsch, Unmut in Euch zu wecken», antwortete Christophorus. «Auch wollte ich Euren Gesang nicht unterbrechen, Frau Marysa. Ihr habt eine ausgesprochen schöne Singstimme.»
«Ja, nicht wahr?», warf Jolánda voller Stolz ein. «Und sie kennt so viele herrliche Lieder – übrigens auch einige sehr fromme, Bruder Christophorus, die Euch sicher besser gefallen als weltliche Liebeslieder. Marysa, spiel ihm eines dieser wunderbaren Marienlieder vor!»
Christophorus wehrte rasch ab. «Ein andermal gern, wohledle Frau. Heute bin ich wegen einer wichtigen Angelegenheit hier, doch ich sehe, dass Ihr Besuch habt. Vielleicht sollte ich später noch einmal wiederkommen?»
«Nein, bleibt nur.» Marysa legte die Laute beiseite. «Dies ist der Goldschmied Bardolf Goldschläger. Meister Goldschläger, darf ich Euch Bruder Christophorus vorstellen.»
«Ah, Ihr seid das?» Bardolf lächelte Christophorus freundlich zu. «Ich hörte während der Ratssitzung, dass ein Inquisitor Eures Namens in der Stadt weilt.»
Christophorus musterte ihn aufmerksam. «Dann seid Ihr Angehöriger des Stadtrates?»
Bardolf lachte. «O nein, Gott bewahre! Die Zunft der Goldschmiede hat in Aachen keinerlei politischen Einfluss. Ich wurde ausgewählt, während der Eröffnungszeremonie zur Heiltumsweisung den Marienschrein zu öffnen, das ist alles.»
«Eine hohe Ehre», fügte Jolánda lächelnd hinzu.
Christophorus nickte. «Das ist es in der Tat.» Dann wandte er sich wieder an Marysa. «Ich würde Euch gerne etwas zeigen.» Er zog einen kleinen Beutel aus dem Ärmel seiner Kutte und drückte ihn ihr in die Hand.
Schweigend öffnete sie ihn und ließ den Inhalt – mehrere kleine Knochensplitter – auf ihre Handfläche rieseln. «Woher habt Ihr die?» Sie untersuchte die Splitter und tat sie dann zurück in den Beutel.
«Die gleichen Fälschungen wie die anderen beiden, nicht wahr?» Christophorus’ Miene wurde ernst. «Ein Pilger fand sie, wie er behauptet, in der Großkölnstraße.»
Bardolf, der dem Ganzen mit Interesse gefolgt war, stand auf und trat zu den beiden. «Darf ich mal sehen?»
Marysa gab ihm das Beutelchen, und er betrachtete die Knochensplitter sehr eingehend. «Aus Eurer Bemerkung eben schließe ich, dass es sich hierbei um einige der gefälschten Reliquien handelt, die Euch die Probleme der vergangenen Tage beschert haben?»
«So ist es», bestätigte Marysa.
Bardolf rieb sich das glatt rasierte Kinn und griff dann in eine versteckte Innentasche seiner Schecke. «Vielleicht könnt Ihr mir dann auch sagen, was es hiermit auf sich hat.» Er händigte ihr ein weiteres Beutelchen aus, das aus festem Leinen gefertigt und mit einer dünnen Lederschnur verschlossen war.
Marysa öffnete es und blickte hinein. Einen Moment lang stockte ihr der Atem, als sie begriff, um was es sich bei dem Inhalt handelte. Ohne ein Wort zu sagen, gab sie den Beutel an Christophorus weiter.
Überrascht nahm er ihn und pfiff dann durch die Zähne wie ein Gassenjunge. «Nicht schlecht! Wie viele Heilige mussten dafür wohl herhalten?»
«Was ist es denn, Marysa?» Nun kam auch Jolánda
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