Die Stadt der tausend Schatten: Roman (German Edition)
viele Arten, diesen Satz zu beenden . A ber was hat dich aufgehalten? Aber warum bist du nicht früher nach Hause gekommen?
Aber warum hast du mich verlassen?
Das werde ich ihn fragen müssen, denn sonst würde ich immer weiter nichts als diese Unsicherheit fühlen. »Warum bist du weggegangen?«, flüstere ich.
19
W ieder ist dieses Gefühl da, ganz frisch – wie in dem Moment, in dem er gesagt hat, er würde weggehen und sich den R ekrutern anschließen. Wie hässlich und nutzlos ich mir deswegen vorgekommen bin.
Er seufzt, und als ich ihn ansehe, ist er aufgesprungen und steht an der Tür – mit der Hand im Nacken. Doch es ist nicht mehr seine Geste, sondern Catchers. Mit zusammengebissenen Zähnen wehre ich die Flut von Gefühlen ab, die beim Gedanken an ihn in mir aufwallen.
Ich will mich nicht so sehr von diesen Männern erschüttern lassen. Dazu bin ich doch zu stark. Ich habe entschlossen und unabhängig sein müssen – und das hat mich geprägt.
Mit verschränkten Armen warte ich auf Elias’ Antwort. Endlich lässt er die Hand fallen und die Schultern kreisen, als ob er Spannungen lösen wollte. »Ich hatte Angst«, sagt er. Er zuckt die Achseln und schaut auf die Karten an derWand.
Schweigend warte ich, dass er weiterspricht.
»Zunächst war das mein Grund wegzugehen«, fährt er fort. »Ich wusste nicht, wie ich für dich sorgen sollte. Ich hatte …« Er schluckt, und ich mache einen Schritt auf ihn zu. »Ich hatte dich schon früher im Stich gelassen.«
»Wie meinst du das?« Er steht keinen Meter von mir entfernt und schaut mich flüchtig an. Sein Blick huscht über meine Narben, so schnell, ein so kleines Abschweifen, dass er bestimmt nicht weiß, dass ich es merke.
Aber selbstverständlich merke ich es. So haben Leute mich den größtenTeil meines Lebens angesehen. Normalerweise begegne ich dem mit finsterer Miene, aber das würde bei Elias nicht wirken. Er kennt mich zu gut. Langsam wird mir kalt, meine Eingeweide sind eisig.
»Es war meine Schuld, dass wir auf die Pfade gegangen sind«, sagt er. »Es war meine Schuld, dass wir das Dorf verlassen haben und nicht dageblieben sind und uns um Gabry gekümmert haben.«
Mit jedem Satz wird seine Stimme lauter. »Es ist meine Schuld, dass wir beide uns imWald verirrt und kaum wieder herausgefunden haben. Das Ganze – einfach alles – ist meine Schuld.« Er ist außer sich und muss erst einmal durchatmen, ehe er fortfährt: »Es ist meine Schuld, dass du …« Er zeigt auf mein Gesicht und sucht nach den richtigenWorten.
»Hässlich bist«, sage ich an seiner Stelle.
»Du bist nicht hässlich«, entgegnet er heftig. »Du hast das nie glauben wollen, und ich konnte den Druck nicht ertragen, es an deiner Stelle glauben zu müssen.«
Ich zucke zusammen, dieser Ausbruch überrascht mich, aber er redet weiter und merkt gar nicht, wie sehr seineWorte mich treffen. »Du wolltest, dass ich ein Held bin, und ich habe versucht, einer zu sein. Deshalb bin ich fortgegangen.«
Er reibt sich die Stirn und schließt die Augen. »Was wir fürs Überleben taten, würde nicht reichen, das wusste ich. Es war nie genug. Ich musste unser Leben irgendwie verbessern. Ich konnte es nicht ertragen, einfach immer so weiterzumachen, ich wollte etwas Besseres. Ich war egoistisch.«
Stumm stehe ich da. Ich hatte ihn nie für egoistisch gehalten. Ich hatte nie ausreichend darüber nachgedacht, was er eigentlich wollte, wer er eigentlich war.
»Ich hatte Angst, Annah, siehst du das denn nicht?Wegen meiner eigenen Mängel bin ich weggegangen. Nicht wegen deiner.«
Was er da sagt, schockiert mich. Ich hatte ja keine Ahnung.Wusste nicht, dass er je so empfunden hat.
»Ich wäre nie in der Lage gewesen, der Mensch zu sein, den du brauchtest.« Das klingt niedergeschlagen und müde. »Ich wollte heimkommen und dir sagen, dass ich alles für uns geregelt habe, dass wir in Sicherheit sind und ein Zuhause haben. Leichenfledderei und Hunger würden uns keinen Kummer mehr machen, wir hätten ein Dach überm Kopf und würden nicht aus der Dunklen Stadt ausgewiesen werden. Ich wollte dir sagen können, dass du in Sicherheit bist.«
Er packt mich bei den Schultern, und ich warte darauf, die Hitze zu spüren. Da fällt mir ein, dass es Catcher ist, dessen Berührung mich verbrennt, nicht Elias.
»Ich habe es für dich getan, Annah«, sagt er. Er schüttelt mich ein wenig, so als könnte er dieWorte in mein Bewusstsein zwingen.
Ich starre ihn an. Seine Augen glänzen, die
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