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Die Stadt unter dem Eis

Die Stadt unter dem Eis

Titel: Die Stadt unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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Die Felsen hatten sie vor der ärgsten Wut des
Sturmes beschützt; trotzdem war das Zelt beinahe unter Schnee
begraben, der Mike eisig in den Nacken rieselte, als er ins Freie
kroch. Der Wind hatte ihre Ausrüstung in weitem Umkreis über
das Eis verteilt und selbst den schweren Schlitten ergriffen und
gute fünfzig Meter weit fortgeschleudert. Von den Hunden war
keine Spur mehr zu sehen. Als Kanuat jedoch nur einmal schrill
auf den Fingern pfiff, tauchten sie wie aus dem Nichts auf und
sprangen freudig kläffend an ihm hoch.
    Sie brauchten fast eine halbe Stunde, um ihre Ausrüstung
zusammenzusuchen und die Hunde wieder einzuspannen.
»Falls ihr noch etwas essen wollt, erledigt das jetzt«, sagte
Kanuat, als sie fertig waren und aufsteigen wollten. »Wir halten
bis Einbruch der Dunkelheit nicht mehr an.«
»Dann bringen Sie uns doch zum Berg der Geister?«, fragte
Mike hoffnungsvoll.
Kanuat schüttelte den Kopf. »Ich bringe euch bis zur großen
Ebene«, sagte er. »Von dort aus könnt ihr den Berg in einem
Tagesmarsch erreichen. Ich werde eine Woche auf euch warten.
Nicht länger.«
Kanuat machte seine Worte wahr und hielt bis zum Einbruch
der Dämmerung nicht mehr an. Doch obwohl die Fahrt Stunde
um Stunde dauerte, schien die Zeit wie im Fluge zu vergehen.
Die schweigende Pracht der grönländischen Landschaft zog
Mike schon bald in ihren Bann, sodass ihm gar nicht richtig
bewusst wurde, wie viele Meilen sie zurücklegten. Die
Landschaft, durch die sie fuhren, war nämlich alles andere als
langweilig. Gewaltige, vom Wind leer gefegte Ebenen
wechselten sich mit fantasievollsten Felsformationen oder
sanften Dünen ab, tief eingeschnittenen Tälern oder kleinen,
zugefrorenen Seen und Bachläufen. Und sie sahen auch eine
erstaunliche Anzahl von Tieren, mit denen Mike in dieser
erstarrten weißen Ödnis nun wirklich zu allerletzt gerechnet
hätte: Vögel, Schneehasen und Polarfüchse, aber auch Robben
und streunende Hunde und einmal sogar in großer Entfernung
einen weißen Flecken, von dem Trautman behauptete, es
handelte sich um einen Eisbären. Kanuat sagte nichts dazu,
änderte den Kurs des Gespanns aber ein wenig, sodass sie dem
Tier, oder was immer es sein mochte, nicht näher kamen.
Bald danach tauchte vor ihnen ein verschwommener Umriss
am Horizont auf. Es war der Berg der Geister, wie Kanuat ihnen
erklärte, und je näher sie ihm kamen, desto mehr glaubte Mike
zu verstehen, warum die Eingeborenen diesen Berg mit so
vielen Legenden und unheimlichen Geschichten umgeben
hatten. Er bot wirklich einen bizarren Anblick.
Bedachte man die große Entfernung, in der sie sich noch
befanden, musste er aber wahrhaft gigantisch sein. Allerdings
war er keineswegs Teil eines Bergmassivs, wie sie sich überall
am Horizont erhoben, sondern ragte ganz allein aus einer
riesigen, vollkommen leeren Ebene empor und auch seine Form
war sehr sonderbar: Das Eis, das ihn über und über bedeckte,
hatte alle Kanten und Winkel abgerundet, trotzdem wirkte er auf
Mike eher wie eine zyklopische Burg als wie ein natürlich
entstandenes Objekt; eine Burg mit unzähligen Türmen und
Zinnen, Erkern und Vorsprüngen, Giebeln und Winkeln.
Als das Blau des Himmels allmählich zu verblassen begann,
hielt Kanuat an und schlug das Nachtlager auf.
»Das ist also der Berg der Geister«, begann Trautman, als sie
mit dem Abendessen fertig waren. Mike war sehr müde und er
nahm an, dass es Trautman und Kanuat auch nicht anders
erging. Trotzdem machte noch keiner von ihnen Anstalten,
schon ins Zelt zu kriechen. Allein der Gedanke an die
drückende Enge, die sie dort drinnen erwartete, ließ Mike
schaudern.
»Warum nennt ihr ihn so?«, fuhr Trautman fort, als der Inuit
auch nach einer Weile nicht auf seine Worte reagierte. »Doch
bestimmt nicht nur, weil er so seltsam aussieht.«
»Wartet ab«, antwortete Kanuat. »Die Geister kommen, wenn
es dunkel ist.«
Trautman zog viel sagend die linke Augenbraue hoch, beließ
es dann aber bei einem Achselzucken und deutete auf die
gewaltige Ebene, die vor ihnen begann und sich bis zum Berg
der Geister erstreckte. »Wie weit ist es noch bis zum Berg?
Bestimmt zehn Meilen.«
»Fünfzehn«, korrigierte ihn Kanuat seelenruhig. »Ihr könnt es
in vier oder fünf Stunden schaffen, wenn ihr euch beeilt. Ich
werde hier auf euch warten.«
»Auf mich«, verbesserte ihn Trautman.
Mike sah ihn verwirrt an. »Wie?«
»Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Trautman. Er
wich seinem Blick aus, während er sprach.

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