Die Stalingrad-Protokolle: Sowjetische Augenzeugen berichten aus der Schlacht (German Edition)
gefangen genommen. In den Stellungen der deutschen Unterstände, wo die Landetruppen nicht gewesen waren, fand ich Leichen, die keine Leichen Gefallener sein konnten, nämlich bestialisch gefolterte Leichen. Zum Beispiel war dort die Leiche eines Rotarmisten, von dessen rechter Hand die Haut mitsamt der Fingernägel abgezogen war. Die Augen waren ausgebrannt, und auf der linken Schläfe war mit einem glühenden Eisen eine Wunde zugefügt worden. Die rechte Gesichtshälfte war mit einer brennbaren Flüssigkeit übergossen und angesteckt worden. Ich habe ein Foto davon und eine Akte.
Ich möchte ein wenig abschweifen und zwei Punkte besonders hervorheben. Vor allem dies: Als ich an den Ort kam, wo die Leichen der Gefolterten lagen, war ein Teil von ihnen schon verscharrt, und ich musste sie ausgraben lassen. Dabei waren die Leichen dieser Helden in Massengräbern verscharrt, ohne einen Hinweis auf die Stätte ihres Begräbnisses. Leider ist dies kein Einzelfall. Wir haben keinen Gefallenenkult, und trotz der strengen Direktiven der Hauptpolitverwaltung der Armee und des Volkskommissariats für Verteidigung [729] ist der Umgang mit Leichen bei uns empörend. Es ist uns noch nicht gelungen, einen Gefallenenkult zu entwickeln.
Ich komme jetzt zur Zersetzung der gegnerischen Truppen zur Zeit der Einkesselung. Seit Dezember hat die Zersetzungsarbeit stark an Schwung gewonnen. […] Besonders großen Raum nahm die mündliche Propaganda ein. Über eine Feldsendestation oder einen Schalltrichter sprachen wir täglich aus den Schützengräben zu den Deutschen. Das wichtigste Dokument in unserer Propaganda war ein Appell an deutsche Offiziere und Soldaten, den Generaloberst Jerjomenko und Generalleutnant Rokossowski unterzeichnet hatten. [730] Hier wurde zum ersten Mal an Offiziere appelliert. Außerdem stand dort zum Beispiel, dass die Militärgeschichte nicht wenige Beispiele mutiger Soldaten und Offiziere kennt, die kapitulierten, als sie sich in auswegloser Lage befanden. Dies sei kein Akt der Feigheit, sondern ein Akt der Vernunft.
Damals übermittelten wir den Deutschen durch den Schalltrichter die tägliche Sowinformbüro-Sendung »Letzte Stunde« jeweils in der folgenden Nacht. Meistens schossen die Deutschen nicht, eröffneten allerdings gegen Ende der Sendung hin das Feuer. Die Zahl der freiwillig in Gefangenschaft gehenden Soldaten und der Überläufer stieg an. Unsere Propaganda erreichte aber auch jeden Tag mehr Leute. Ich kann dazu folgenden Vorfall wiedergeben. In der Nacht vom 10. auf den 11. Januar ging ich mit dem Technikerintendanten Gerschman, Übersetzer der 116. Division, zur vordersten Linie, um den Deutschen eine Mitteilung über Paulus’ Ablehnung des Kapitulationsangebotes vorzulesen. Es war am frühen Morgen, gegen sechs Uhr. Wir kamen zur vordersten Linie. Weil es zuvor eine Offensive gegeben hatte, war die Entfernung zwischen uns und den Deutschen groß, ungefähr 200 Meter. Über 200 Meter hinweg konnte man nicht zu den Deutschen sprechen. Also gingen wir zu zweit über die vorderste Linie hinaus auf neutrales Gebiet, 80 bis 100 Meter von unseren Gräben entfernt, legten uns zwischen die Toten und begannen mit der Wiedergabe. Zu dem Zeitpunkt feuerten die Deutschen eine Rakete ab, und wir sahen 50 bis 60 Meter von uns entfernt eine Gruppe deutscher Soldaten, die uns zuhörten. Offen gesagt, es war ein bisschen zum Fürchten. Doch wir lasen ein Mal, lasen ein zweites Mal, und die Deutschen schossen nicht, obwohl sie uns gesehen hatten. Nachdem wir die Meldung zweimal durchgegeben hatten, liefen wir zurück. Die Deutschen schossen wieder nicht auf uns, obwohl sie uns mühelos hätten töten können.
Ein sowjetischer Soldat überträgt in deutscher Sprache gegnerischen Soldaten die Nachrichtensendung »Letzte Stunde«, Stalingrad, Dezember 1942. Fotograf: Leonidow
Ein sehr wirksames Mittel war das Zurückschicken von Gefangenen. Das wurde seit Mitte Dezember intensiv praktiziert. Meistens nahm man Deutsche gefangen, schickte sie gleich zum Gefechtsstand des Bataillons oder des Regiments, gab ihnen zu essen und ließ sie ohne jede konkrete Aufgabe wieder laufen. Sie sollten nur hingehen und die Wahrheit darüber erzählen, wie es in Gefangenschaft war. Das hatte großen Einfluss, denn die Deutschen waren der Propaganda wegen überzeugt, die Russen würden ihnen die Augen ausstechen, die Ohren abschneiden usw.
Ich weiß noch, wie Ende Dezember der Gefreite Werner gefangen genommen
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