Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
seltsames Gefühl. Nach einer Ewigkeit des Kampfes in Richtung Sonne tauchte er in einer Welt der Wunder und wieder völlig anderer Gefahren auf. Er entfaltete seine Blätter - und fand sich auf der Erde zusammengekauert in der Höhle auf Diabolo wieder.
Er besuchte Orte, die ihm vertraut wie seine eigenen Hände waren, und Welten, die so fremd waren, dass er keine Worte fand, sie zu beschreiben. Manchmal verspürte er Angst, bei anderen Gelegenheiten Aufregung, und mitunter überkam ihn sogar Langeweile. Er fand jedoch nie wieder einen Ort, an dem er sich so zu Hause fühlte wie bei Dem Volk. Bekümmert akzeptierte er, dass es offenbar nicht seine Bestimmung war, sich jemals ganz zu einer Gruppe zugehörig zu fühlen.
Die Erfahrungen, die er machte, erschöpften ihn spirituell, ließen ihn aber auch ein ganz neues Bewusstsein für die Welt um ihn herum gewinnen. Doch würde das für seine volle Initiation genügen? Er zerbrach sich nicht zu sehr den Kopf über die Frage, da er zum Glück auch lernte, weniger zu denken.
Nikolai verlor sich so in seinen ständig wechselnden Erfahrungen, dass es eine große Überraschung war, als Adia eines Morgens sagte: »Komm. Es wird Zeit für deine endgültige Prüfung.«
Er trank seinen letzten Tee und folgte ihr zu einem schmalen Ziegenpfad, der in Zickzacklinien den steilen Hang hinaufführte. Die anderen Priester begleiteten sie diesmal nicht.
Sie erreichten den Gipfel und machten sich auf den Weg nach unten. Die Sonne stand schon ein gutes Stück über dem Horizont, als sie zu einem Felsvorsprung mehrere Meter über der tosenden See hinabgestiegen waren. Die Wellen waren hier größer als in der Caldera und der Wind viel schroffer. Adia blieb am Wasserrand stehen und überreichte Nikolai einen Beutel mit einer Wasserflasche und einem halben Brot. »Setz dich hierher und beobachte die See.«
»Wonach soll ich Ausschau halten?«
»Das weiß ich nicht. Aber übe dich in Geduld, Captain! Weisheit erlangt man nicht so schnell.« Sie lächelte. »Du bist jetzt besser dazu befähigt als bei deiner Ankunft auf Diabolo.«
»Und woher weiß ich, wann ich diese spezielle Weisheit erlangt habe?«
»Das wirst du merken.« Damit wandte Adia sich ab und begann wieder den Aufstieg.
Nikolai ertappte sich dabei, dass er ihr nachsah, weil sie menschlich in einer Landschaft ohne Menschen war, und zwang sich, den Blick wieder auf die See zu richten. Er hatte vor Beginn seiner Initiation versucht zu meditieren, und es war ein glatter Misserfolg gewesen.
Heute erschien es ihm jedoch schon etwas leichter. Den ganzen Tag saß er da, so still er konnte, beobachtete die Brandung und die Lichtveränderung auf den Felsen. Die Sonne war heiß und der Fels, auf dem er saß, hart und unbequem, aber er tat sein Bestes, um seinen Kopf von unnötigen Gedanken zu befreien und Klarheit zu gewinnen.
Seemöwen flogen mit sehnsüchtigen Schreien vorbei und stürzten sich hin und wieder in die See herab, um einen Fisch zu fangen. Eine Eidechse kam aus einer Felsspalte und lief so dicht an ihm vorbei, dass Nikolai sie hätte fangen können. Drei Ziegen in seiner Nähe zupften an den spärlichen Grasbüscheln hier und dort. Aber Weisheit fand er keine. Obwohl die zahlreichen Herausforderungen sein Denken ein wenig verlangsamt hatten, schwirrte ihm der Kopf noch immer von Gedanken, Einfällen und Fragen.
Bei Sonnenuntergang wurde ihm klar, dass Adia ihn heute nicht mehr holen würde. Deshalb hatte sie ihm Wasser und Brot dagelassen. Er aß und trank davon nur wenig, weil er nicht wusste, wie lange seine Vorräte reichen mussten. Als es zu dunkel wurde, um die Wellen zu beobachten, fand er eine geschützte Nische zwischen den Felsen. Die Ziegen verschmähten trockenes Gras, daher sammelte er, so viel er konnte, um sich ein dünnes Lager daraus herzurichten. Schließlich legte er sich zum Schlafen nieder und dachte, dass er in seinem ganzen Leben keinen langweiligeren Tag verbracht hatte. Vielleicht war seine heutige Lektion, Langeweile zu ertragen?
Als er einschlief, sangen die Sterne ihm ein Schlaflied.
Am nächsten Morgen begannen Hunger, Kälte und Untätigkeit ihm schwer zuzusetzen. Nikolai ermahnte sich jedoch, dass er schon viel Schlimmeres überlebt hatte, und aß den Rest des Brotes und trank einen Schluck Wasser, bevor er beharrlich wieder die See zu beobachten begann. Am späten Morgen sah er ein weit entferntes Segel. Es war der Höhepunkt seines Tages.
Am späten Nachmittag wurde ihm ein
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