Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
Abstand halten, während unsere persönlichen Kräfte sich entfalten. Ergibt das einen Sinn für dich?«
»Oh ja.« Sie setzte sich und strich ihr langes Haar zurück, das ihr jetzt in weichen Wellen um die Schultern fiel. »Wenn wir ein Liebespaar wären, würden wir gegenseitig unsere Energien beeinflussen. Manchmal ist das gut, aber nicht für uns. Zumindest jetzt noch nicht.«
Sie stand auf und ging zum Tisch, um Tee einzuschenken, doch dann erstarrte sie. Obwohl Nikolai sich hinter ihr befand, konnte sie seine Energie nicht spüren. Ihr war, als wäre sie ganz allein im Raum. Verwundert drehte sich um und fragte: »Unterdrückst du in irgendeiner Weise deine Energie?«
Auch er sah überrascht aus. »Ich weiß nicht. Mal sehen ...« Ein abwesender Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Sekunden später war er umgeben von gedämpften Farben, und sie konnte wieder die Verbindung zu ihm spüren. »Bewirkt das etwas?«
»Auf jeden Fall.« Jeans Gedanken rasten, als sie sich auf einen Stuhl setzte. »Es kommt selten vor, dass ein Mensch mit Macht seine Energie so gänzlich einstellen kann, dass nicht einmal ein Magier in seiner Nähe sagen kann, ob er noch lebt. Sowie ich mich von dir abwandte, war es so, als existiertest du nicht mehr. Hast du das ganz bewusst getan?«
Er runzelte die Stirn. »Es gab einen Zwischenfall zu Beginn meiner Initiation, bei dem ich von einem Reiter mit einem Schwert angegriffen wurde. Ich glaube, dass ich mich in dem Moment in mich zurückgezogen habe wie ein Schalentier, als ich dem Schwerthieb auszuweichen versuchte. Für einen Augenblick war ich sicher, dass ich sterben würde, obwohl dem nicht so war. Aber offenbar habe ich meine Energie bis jetzt in mir zurückgehalten, da ich nicht ein Mal daran gedacht habe, sie freizusetzen, bis du davon sprachst. Ich muss lernen, mir dessen, was ich tue, bewusster zu sein.«
Jean wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. »Jetzt ist mir klar, warum du glaubst, mein Vater hätte dich verraten. In fortgeschrittenem Alter litt er an grauem Star, einer Trübung der Augen. Sein magisches Wahrnehmungsvermögen war jedoch so stark, dass seine Sehschwäche normalerweise keine Rolle spielte. Aber falls du dich in dich zurückgezogen hast, als du von den Piraten gefangen genommen wurdest, hätte er dich auf einem angrenzenden Schiff nicht wahrnehmen können, nicht einmal, wenn er dich direkt ansah. Er muss dich für tot gehalten haben, weil er deine Lebensenergie nicht orten konnte.«
Nikolai schaute sie an, als hätte er einen Faustschlag in den Bauch bekommen. »Und inmitten eines heftigen Kampfes, mit einem verwundeten Freund zu seinen Füßen, konnte er auch nicht lange nach einem Jungen suchen, von dem er glaubte, dass er tot war.« Nikolai schloss die Augen und stieß einen leisen, aber tief empfundenen Fluch aus. Dann schwieg er lange Zeit, bevor er Jean wieder ansah. Seine Augen verrieten den Schmerz, den er empfand. »Mein ganzes Leben war ich stolz auf meine Fähigkeit, mich vor den Blicken anderer zu verbergen, wenn die Lage kritisch wurde. Es war mein eigener verdammter Fehler, dass ich in die Sklaverei verschleppt wurde.«
»Man kann nicht von Fehlern reden, wenn ein verzweifeltes Kind sich schützen will.« Jean versuchte, sich vorzustellen, was er empfinden musste. »Wenn mein Vater gewusst hätte, dass du noch lebtest, hätte er vielleicht den Versuch unternommen, dich noch zu retten. Oder vielleicht hätte er auch gar nichts tun können und mit diesem Schuldgefühl bis zu seinem letzten Atemzug gelebt. Wir wissen nicht, wie es gewesen ist, Nikolai.«
Sie setzte sich zu ihm aufs Bett und nahm seine Hand. »Und wenn du nicht selbst ein Sklave geworden wärst, hättest du nicht den Zorn und das Mitgefühl entwickelt, die zur Befreiung so vieler anderer Sklaven führten.«
Er umschloss ihre Hand mit seiner. »Du meinst, es war gut, dass ich gefangen genommen wurde?«
»Vielleicht. Gottes Wege sind unergründlich, Nikolai«, erklärte sie mit einem schiefen Lächeln. »Ich versuche, mir vorzustellen, wie es gewesen wäre, wenn du Dunrath erreicht hättest und als mein Bruder aufgezogen worden wärst. Ich betrachte dich nämlich nicht als Bruder, wie du weißt.«
Er lachte und drückte ihre Hand. »Und auch du bist für mich alles andere als eine Schwester.« Nikolai stand auf und küsste sie sehr sanft und zärtlich auf die Lippen, bevor er zu dem Tisch mit dem Teegeschirr hinüberging. Er schenkte Jean Tee nach und brachte ihn
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