Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
bisschen schwindlig, und er trank den Rest des Wassers. Wenn er bis morgen früh noch immer nichts gesehen hatte, würde er zum Lager zurückgehen müssen. Er wusste nicht, was schlimmer war - der Hunger und Durst oder das überwältigende Bedürfnis, etwas zu tun. Irgendetwas. Selbst Einzelhaft in einer Gefängniszelle wäre erträglicher als das hier - das wusste er, weil er lange genug gefangen gewesen war.
Die Abenddämmerung brach schon herein, als er in der Ferne eine Wasserhose sah. Zuerst hielt er sie für die Folge eines fernen Sturms, aber dann bildeten sich eine weitere Wasserhose und noch eine und noch eine, bis der Horizont voller wirbelnder Energietürme war. Alle hatten ihre eigene Natur. Manche waren so dunkel und erschreckend, dass Nikolai sich scheute hinzusehen. Andere waren fern und offensichtlich nicht von dieser Erde. Einige wenige waren warm und einladend.
Bestürzt erkannte er, dass diese seltsamen Gebilde Geister waren. Zu der afrikanischen Religion gehörten auch Naturgeister, einige gut, andere böse nach menschlicher Bezeichnung. Was alle jedoch gemeinsam hatten, war gefährlich große Macht. Während die Vorfahren eine innige Verbindung zu der Menschheit unterhielten, waren diese Geister mächtige Entitäten, die großen Schaden bewirken konnten und nichts hatten, was Menschen als Bewusstsein oder Gewissen anerkannten.
Es war ein weiterer Schock für ihn zu erkennen, dass er es bei seiner Mission mit solch großen, unmenschlichen Mächten zu tun haben würde. Das war eine Furcht erregende Erkenntnis.
Während er noch fassungslos die Geister anstarrte, begannen sie, durcheinanderzuwirbeln und sich zu einem einzigen riesigen Energiestrudel zu vereinen, der bis zum Himmel und noch weiter aufragte. In unheimlicher Stille glitt der Strudel über die See zu ihm herüber. Innerhalb des gewundenen Gebildes blinkten helle und dunkle Stellen auf, Farben ohne Namen, die Verkörperung von Kreation und Destruktion.
Nikolai fing in dem kühlen Wind der See zu frösteln an. Als der Strudel näher kam, formte sich der Geist zu einer fast schon menschlichen Gestalt, die allerdings so undeutlich war, dass Nikolai nicht sehen konnte, ob sie weiblich, männlich oder ... was auch immer war.
Er empfand jedoch keine Angst beim Anblick der Gestalt. Was immer sie war, er konnte keine Bosheit an ihr spüren, nur besonnene, ruhige Weisheit und Wohlwollen und Güte.
Der Geist hielt vor ihm inne und begann, viele verschiedene Formen und Farben anzunehmen. Nikolai sah seine Mutter, seine Großmutter, einen dunkelhäutigen Malteser, der bestimmt sein Großvater war, und einen blonden Nordeuropäer, vielleicht sein Vater. Danach reichten die Bilder bis weit in die Vergangenheit zurück und zeigten Nikolai eine lange Reihe von Vorfahren, die aus Afrika, Europa und Asien stammten.
Schließlich erreichte der Geist die Küste und legte große Hände um Nikolais zitternden Körper. Während Wärme ihn durchflutete, hörte er im Geiste: »Sei still und wisse, dass ich Gott bin.»
Sei still und wisse, dass ich Gott bin.
Obwohl es christliche Worte waren, wusste Nikolai, dass sie die Natur aller Religionen widerspiegelten. Christentum, Hinduismus, die Götter und Geister Afrikas - sie alle entsprangen einer großen Quelle der Wahrheit und Mysterien. Sich still zu verhalten, würde immer eine Herausforderung für ihn sein, doch wenn er jemals Frieden brauchte, kannte er nun den Weg dorthin.
Während diese Erkenntnis ihn erfüllte, spürte er, wie ihn der Geist umarmte. Die Energie war jetzt eindeutig weiblich, und in ihren Armen spürte er seine Großmutter, seine Mutter, Ulindi, Adia - und vor allem Jean Macrae. Mit den Jahren hatte er den weiblichen Aspekt seiner Natur verloren, und jetzt war er ihm wiedergegeben worden.
Nikolai senkte den Kopf und weinte.
Bis Nikolai sich wieder gefasst hatte, war der große Geist der See verschwunden, und es war schon dunkel. Mit schmerzenden Gliedern richtete er sich auf und fragte sich, ob er es im Dunkeln den steilen Berg hinauf schaffen könnte, ohne sich den Hals zu brechen. Als er jedoch zu dem Abhang aufschaute, sah er einen Lichtschimmer oben auf dem Kamm. Adia kam, um ihn zu holen.
Sie lächelte, als sie ihn erreichte und das violette Feuer um sie herum die Dunkelheit erhellte. »Das hast du gut gemacht, Captain. Du bist jetzt in die Geheimnisse der Vorfahren eingeweiht. Komm mit mir zurück, denn du wirst nicht nur weiser, sondern auch verfroren und hungrig
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