Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
hast du dazugelernt?«
»Ich habe einen Schiffskapitän, der Ware für meinen Vater befördert, gebeten, einen afrikanischen Schamanen für mich zu suchen, und das hat er getan. Sekou ist nach Marseille gekommen und hat mich ein Jahr und einen Tag lang unterrichtet. Er sagte, es gebe Dinge, die er mich lehren müsse, weil sie später einmal unentbehrlich sein würden.«
Als er verstummte, fragte Jean: »Und was hast du von ihm gelernt? Sind die europäische und afrikanische Magie verschieden?«
»In mancher Hinsicht sind sie ähnlich, in anderer völlig unterschiedlich. Die Ahnen sind in der afrikanischen Magie sehr mächtig.« Seine Stimme wurde lauter, nachdrücklicher. »Ich habe bei Sekou so viel gelernt! Er wies mir den Weg bei einer Initiation, während der ich in anderen Welten wandelte. Nicht körperlich natürlich, sondern geistig. Aber alles war so klar und so lebendig, dass ich, wenn ich Feuer gefangen hätte, wohl verbrannt wäre. Ich habe von Sekou gelernt, dass einige afrikanische Schamanen besondere Fähigkeiten haben, mit Zeit und Ort zu arbeiten, was ich von europäischer Magie noch nie gehört habe. Ich weiß nicht, ob ich diese Fähigkeiten besitze, doch er lehrte mich die Techniken, und ich übe jeden Tag. Eine Lebenszeit würde nicht genügen, um das alles zu erlernen.« Er beruhigte sich wieder und senkte die Stimme. »Nimm mir meine Begeisterung nicht übel. Ich wollte schon lange mit jemandem darüber sprechen, aber die anderen waren nicht erpicht darauf, mir zuzuhören.«
»Ich würde gern noch mehr erfahren, sowie du Zeit hast, es mir zu erzählen«, erwiderte Jean fasziniert. »Die Frau meines Bruders ist eine Gelehrte der Wächtermagie, und sie würde es mir nie verzeihen, wenn ich mir eine solche Gelegenheit entgehen ließe, mehr Wissen zu erlangen.«
»Oh, ich erzähle dir gern alles.« Seine Miene wurde grimmig. »Ein Grund, warum ich beschloss, mein Wissen zu vergrößern, war die Notwendigkeit, Magie wirken zu können, um mich selbst zu schützen. Es gibt Menschen, die einen Schwarzen auf den Straßen sehen und ihn für einen Sklaven halten, den sie ohne Weiteres stehlen können. Ich wurde schon zwei Mal von Banden überfallen, die mich ergreifen und versklaven wollten. Ein Mal konnte ich sie mit meinen Fäusten abwehren, doch das andere Mal ...« Er schüttelte den Kopf. »Ohne Magie würde ich jetzt vielleicht auf den Zuckerplantagen der Westindischen Inseln schuften. Aber ich beflecke meine Hände nicht gern mit Blut.«
Jean erschauderte bei seinem mit ausdrucksloser Stimme vorgetragenem Bericht. »Ich habe gehört, dass das auch in England vorkommen soll. Ich hätte jedoch nicht gedacht, dass ein so offensichtlicher Gentleman wie du in Gefahr sein könnte.«
»Schwarz ist schwarz«, entgegnete er trocken. »Alles andere ist bloß Kleidung. Ich habe den anderen nichts davon erzählt, obwohl Jemmy wahrscheinlich schon vermutet, dass ich Schwierigkeiten hatte. Aber Lily soll nicht wissen, dass ich ... einen Mann umbringen musste, um meine Freiheit zu bewahren.«
»Ich werde es ihr nicht sagen.« Jean verengte die Augen. »Und falls du Absolution suchst, weil du getötet hast, um dich zu retten, dann hast du meine, falls dir das was nützt.«
Er atmete tief aus. »Ich glaube, das war es tatsächlich, was ich wollte. Danke, Jean.« Er reichte ihr den Arm. »Soll ich dich jetzt zu deinen Zimmern zurückbegleiten?«
»Ich bitte darum, Monsieur Fontaine«, scherzte sie, als sie lächelnd seinen Arm nahm. »Und vergesst nicht die Rolle Bindfaden für zukünftige Exkursionen!«
6. Kapitel
O
bwohl Jean gern mehr Zeit damit verbracht hätte, sich mit Moses über afrikanische Magie zu unterhalten, waren die nächsten Wochen mit Besichtigungen, Picknicks, Bällen und den Vorbereitungen für die Hochzeiten erfüllt. Annie war die ideale Begleiterin, weil auch sie alles sehen wollte und wild entschlossen war, jede Kirche zu besuchen oder jeden Hügel zu erklimmen. Lily und Breeda begleiteten sie auf ihren Ausflügen, und auch Moses und Jemmy kamen mit, wenn sie nicht gerade arbeiteten.
Während sie die milden, sonnigen Tage genossen, fragten Jean und Annie sich mitunter, welch schlimme Stürme wohl gerade die Berge Schottlands heimsuchten. Jean hatte dabei oft das eigenartige Gefühl, dass sie im Grunde wusste, wie das Wetter in Dunrath war, und nur keine Möglichkeit besaß, sich zu vergewissern, ob ihr Eindruck stimmte. Vielleicht hatte sie aber auch nur eine rege
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