Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
er faszinierte sie noch immer. »Natürlich.« Sie streckte ihm ihre rechte Hand hin und dachte, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn sie ihre Handschuhe anbehalten hätte. Denn auch er trug keine, und der direkte Hautkontakt war eigentlich zu intim, fand sie. Doch da er ihren Vater gekannt hatte, war er eigentlich kein völlig Fremder.
Seine Hand schloss sich mit einem kräftigen Griff um ihre, und ein Strom von Energie durchglühte sie. Dunkelheit, Zorn ... und die Welt zersplitterte.
Nikolai hielt immer noch die Hand der jungen Frau, sodass er sie gerade noch auffangen konnte, bevor sie ganz zusammenbrach. Gott, wie leicht sie war - kaum schwerer als ein Kind! Er blickte auf ihr schmales, blasses Gesicht herunter. Sie musste Mitte zwanzig sein, aber sie sah viel jünger aus. Ein verzärteltes, wohlbehütetes Kind der britischen Aristokratie.
Für einen Moment erfassten ihn Gewissensbisse. Dieses Mädchen war nicht die Person, die ihn verraten und der Sklaverei überlassen hatte. Doch die Sünden der Väter vererbten sich nun mal auf ihre Söhne und Töchter. Seit zu vielen Jahren, in schier endlosen, infernalischen Tagen und qualvollen Nächten, hatte er Pläne für seine Rache an Macrae geschmiedet. Er hatte sich an dieser Rachelust geweidet, und oft war sie das Einzige gewesen, was ihn am Leben erhalten hatte.
Obwohl es eine bittere Enttäuschung für ihn war, dass sein Feind nicht mehr lebte, war er nach so vielen Jahren eigentlich nicht überrascht darüber. Aber bisher war Nikolai nicht in der Lage gewesen, Gerechtigkeit zu üben. Er hatte zuerst Freiheit, Wohlstand und Macht erlangen müssen, um mit Macrae und seiner Familie ins Gericht gehen zu können.
Ironischerweise befand er sich heute in dem Fontaine'schen Lagerhaus, um Waren für seine erste Fahrt nach London einzukaufen. Er hatte diese Reise seit Jahren geplant, da er nun endlich in der Lage war, seinen Feind zur Rechenschaft zu ziehen. Und nun war ihm die Tochter dieses Feindes in die Hände gefallen! Vielleicht war es ja die Macht seiner Besessenheit, die sie zu ihm hingeführt hatte.
Da er den alten Macrae nicht mehr bestrafen konnte, musste er an dem Sohn Vergeltung üben, der heute der Macrae von Dunrath war. Und dieses blasse Mädchen, das rein zufällig in seine Gewalt geraten war, würde seine Waffe sein. Mit lebhafter Neugierde betrachtete er sie und dachte, dass ihr zarter Körper nie Not oder harte Arbeit gekannt hatte. Sie hatte einen sehr hellen Teint, und ihr Haar war so stark gepudert, dass seine natürliche Farbe nicht mehr zu erkennen war. Ihre Augen waren von einem hellen Braun, soweit er sich erinnerte.
Auf ihre zerbrechliche, aristokratische Art war sie jedoch ein hübsches Ding. In einer jähen, heftigen Vision von sich selbst sah Nikolai, wie er über sie herfiel, ihr dieses teure Kleid vom Leib riss und sie gleich hier auf der Stelle nahm.
Das heftige Verlangen, das seine Vision begleitete, brachte ihn zum Zittern. Nach einem tiefen Atemzug ließ er das Mädchen sanft zu Boden gleiten. Er tat Frauen keine Gewalt an, nicht einmal der Tochter seines alten Feindes.
Tano kam zurück und blieb vor dem Mädchen stehen, um es verwundert anzustarren. »Captain?«
»Sie ist die Tochter meines Feindes.« Nikolais Vorsatz erhärtete sich. Das Schicksal hatte die kleine Macrae zu ihm geführt, und dieses Geschenk würde er nicht vergeuden. Er konnte später entscheiden, wie er sie am besten benutzte, doch zunächst einmal musste er sie unbemerkt zu seinem Schiff bringen. »Sie ist klein genug, um in eine der größeren Korbtruhen zu passen. Hol eine aus dem Lagerhaus und achte darauf, dass dich niemand sieht.«
Tano blickte stirnrunzelnd auf das Mädchen herab, bevor er sich abwandte und ging. Auch Nikolai musterte sie wieder prüfend und fragte sich, wie lange sie bewusstlos bleiben würde. Er hatte eine enorme Energie auf sie verwandt - der bloße Gedanke an Macrae hatte ihn mit glühendem Zorn erfüllt. Er konnte von Glück sagen, dass er die Kleine nicht versehentlich getötet hatte. Vermutlich wäre das sogar geschehen, wenn ihre Schutzschilde nicht gewesen wären. Sie war immerhin eine Wächterin. Und seine eigene Macht war noch nicht voll entwickelt und rigoros beherrscht - bis auf Gelegenheiten wie diese.
Er fragte sich, wie groß ihre Macht sein mochte, denn ihre Schutzschilde waren ziemlich effektiv gewesen. Aber vielleicht hatte sie Hilfe dabei gehabt. Wenn Macrae von seinen Kindern gesprochen hatte,
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