Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
hatte er großen Stolz auf das Talent seines Sohnes erkennen lassen, das seiner Tochter jedoch nie erwähnt. Wahrscheinlich besaß Jean Macrae keine ungewöhnlichen magischen Fähigkeiten, doch darauf durfte er sich nicht verlassen. Eine gefangene Wächtermagierin könnte sehr gefährlich sein.
Tano kam mit einer der großen Korbtruhen zurück, die für die Verpackung zerbrechlicher Gegenstände benutzt wurden. Nikolai entfernte den Deckel, und dann hob er Jean Macrae auf und brachte sie in der Truhe unter. Sie passte kaum hinein, obwohl ihre Knie angezogen und ihre Arme über der Brust verschränkt waren wie bei einem Kind. Wieder erfasste Nikolai ein leises Unbehagen über seine Handlungsweise. Sie hatte so liebreizend und unschuldig ausgesehen, als sie zu ihm aufgeblickt hatte, freudig überrascht, einen Mann zu finden, der ihren Vater gekannt hatte.
Aber alle Lebenden waren die Produkte ihrer Vorfahren. Sie hätte sich ihre sorgfältiger auswählen sollen. Nikolai ließ die Haube, die sie verloren hatte, achtlos auf sie fallen.
»Wird sie weiterschlafen?«, fragte Tano.
Nikolai berührte ihre glatte, elfenbeinfarbene Stirn. Ihr Bewusstsein lag noch in tiefem Schlummer, doch sicherheitshalber sandte er noch mehr Energie nach. »Lange genug«, antwortete er und schloss die Truhe.
Der nächste Schritt war, sie auf das Schiff zu bringen. Nikolai würde sie selbst tragen müssen, weil nur er die Fähigkeit besaß, die Menschen dazu zu bringen, ihn zu übersehen. Obwohl er nicht direkt unsichtbar wurde, neigten die Leute dazu, an ihm vorbeizuschauen. »Ich bringe sie durch den Haupteingang hinaus. Bleib du hier, um mich hinten wieder hereinzulassen. Dann beenden wir unsere Einkäufe und verlassen das Gebäude an der Hafenseite. So wird niemand merken, dass ich gegangen und wieder zurückgekommen bin.«
Tano nickte und nahm einen der beiden Griffe der Truhe, um Nikolai zu helfen, sie zur Tür zu tragen. Danach war er allein. Die kleine Macrae war nicht schwer, aber die Truhe war sehr unhandlich. Zum Glück lag die Justice ganz in der Nähe vor Anker. Nachdem er seine Gefangene in einer Offizierskabine eingeschlossen hatte, kehrte Nikolai zum Warenhaus der Familie Fontaine zurück und beendete seine Einkäufe, ohne sich irgendetwas anmerken zu lassen.
Sowie die letzte Fracht verstaut war, lief das Schiff mit der zum Glück gerade rechtzeitig einsetzenden Flut aus. Die Götter begünstigten sein Vorhaben sogar, schien es.
Jeans Verschwinden wurde bemerkt, als Monsieur Fontaine sie suchte, um mit ihr zum Mittagessen heimzufahren. Die Körbe mit ihren Einkäufen wurden gefunden, von ihr war jedoch nirgendwo etwas zu sehen. Warenhaus und -lager wurden durchsucht, die Bewohner der Nachbarschaft mit wachsender Verzweiflung befragt, doch alles war vergeblich. Miss Jean Macrae, eine junge schottische Aristokratin, war verschwunden, ohne die kleinste Spur zu hinterlassen.
7. Kapitel
Adia auf der Überfahrt
D
ie Zitadelle an der Sklavenküste, in der sich die Gefangenen befanden, war das größte, eindrucksvollste Gebäude, das Adia je gesehen hatte, aber es war das Tor zur Hölle. Eine schmale Tür, gerade groß genug, um jeweils eine Person durchzulassen, ermöglichte es, hintereinander angekettete Sklaven direkt auf das Schiff zu überführen. Als Adia diese Tür passierte, wusste sie, dass sie ihr Heimatland nie Wiedersehen würde. Bitte lass mich nicht im Stich, Großmutter, auch wenn ich Afrika verlasse!
Wie immer, wenn sie Monifa um Hilfe bat, spürte sie deren sanfte Berührung an ihrem Herzen. Und obwohl die Antwort wortlos war, verwandelte sich das Gefühl in Adias Kopf in die geliebte Stimme ihrer Großmutter: Natürlich nicht, mein Kind. Ich werde immer bei dir sein.
Der Geist ihrer Großmutter gab ihr die unerschütterliche Entschlossenheit, die sie brauchte, um zu überleben. Die Reise war ein endloser Horror, schlimmer als alles, was sie sich jemals vorgestellt hatte. Etwa jeder fünfte Sklave starb während der Überfahrt. Einmal rissen sich drei Männer los und sprangen über Bord, da der Tod die einzige Möglichkeit war, dieser Hölle zu entkommen.
Zweien gelang es. Der dritte wurde ins Leben zurückgeholt von Seemännern, die ihn in einem Boot verfolgten. Sobald der Sklave wieder an Bord war, wurde er wegen seines Fluchtversuchs halb zu Tode gepeitscht. Kondo, der bösartige, hundsgemeine Mann, der die Peitsche schwang, war Afrikaner und ein besonderer Gehilfe des Kapitäns. Die
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