Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
in Marseille entführt habe?«
»Die existierte hauptsächlich in Eurem Kopf.« Ihre scharfe Stimme war ebenso verändert wie ihr Auftreten und ihre Kleidung. »Ich bin keine zarte englische Jungfer, Captain. Ich bin bei dem Aufstand 1745 gegen die Armee des Königs in den Krieg geritten. Als mein Liebster fiel, habe ich unsere Männer selbst befehligt. Nach der Schlacht von Culloden habe ich sie querfeldein durch Gebiete voller plündernder englischer Soldaten sicher heimgeführt. Ihr habt mich unterschätzt, wie es die meisten Männer tun.« Sie verengte die Augen. »Ich hätte Euch töten können, doch stattdessen habe ich Euch das Leben gerettet. Das müsste doch meine Freiheit wert sein.«
»Warum sollte ich fair sein, wenn die Macht in meinen Händen liegt?« Da er es für unwahrscheinlich hielt, dass sie ihn angriff, sammelte er seine Kräfte und streckte langsam eine Hand aus, um ihr den Säbel abzunehmen.
Blitzschnell zog sie die Klinge über sein Handgelenk, mit gerade genug Druck, dass es zu bluten anfing, und wich tänzelnd einen Schritt zurück. »Nicht die ganze Macht. Es besteht eine gute Chance, dass ich Euch töten kann, bevor irgendeiner Eurer Männer diese kleine Szene hier bemerkt.« Sie lächelte herausfordernd. »Wir werden ja sehen, ob Eure Angriffsstärke größer ist als meine Fähigkeit, mich abzuschirmen.«
»Ich bezweifle, dass Ihr genügend Macht besitzt, um mich und meine gesamte Mannschaft abzuwehren!«
»Das herauszufinden, wäre interessant«, versetzte sie und senkte die Spitze ihres Schwertes. »Versprecht mir mein Leben und die Freiheit, und im Gegenzug dazu werde ich Euer Leben verschonen und keine Vollstrecker der Wächter auf Euch hetzen.«
»Ich habe nicht vor, Euch zu töten, aber Eure Freiheit ist eine andere Sache.« Nikolai fluchte, als er das Blut von seinem Handgelenk abwischte. Die Wunde war nicht gefährlich, brannte jedoch höllisch. »Wie kommt Ihr darauf, dass ich ein erzwungenes Versprechen halten würde?«
Jean lachte wissend. »Weil Ihr ein Mann mit Prinzipien seid - auch wenn Ihr ein Entführer und blutrünstiger Pirat seid.«
Nikolai fluchte wieder. Diese Frau durchschaute ihn wie keine andere, der er je begegnet war. Außer seiner Großmutter vielleicht. »Ihr habt so gut wie keine Verhandlungsmöglichkeiten. Wenn Ihr mich umbringt, töten meine Leute Euch.«
»Ein Mann, der mit solcher Leidenschaft Vergeltung sucht, muss ein Gerechtigkeitsempfinden haben«, sagte sie. »Seid Ihr mir etwa nichts dafür schuldig, dass ich Euch das Leben gerettet habe?«
Nikolai runzelte die Stirn, weil es ihm nicht behagte, ihr recht geben zu müssen. Moulay Reis' Rechnung war aufgegangen: Als Moulay einen hilflosen Sklaven angegriffen hatte, war Nikolai so in Wut geraten, dass er alle Vorsicht in den Wind geschlagen hatte. »Vielleicht wäre ich Moulay Reis' Kugel ja noch ausgewichen, da ich schon viele solcher Kämpfe überlebt habe. Aber es ist natürlich auch möglich, dass er mich getötet hätte, und deshalb schulde ich Euch tatsächlich etwas. Allerdings nicht Eure Freiheit. Dafür ist mein Leben ein zu geringer Preis.«
Jean presste die Lippen zusammen. »Dann solltet Ihr mich wenigstens aus dieser Kabine herauslassen, bevor ich vor Langeweile den Verstand verliere.«
Die schottische Hexe war also ungeduldig, was ihn bei diesem flammend roten Haar nicht überraschte. »Wenn Ihr mir Euer Wort gebt, dass Ihr niemanden verletzen werdet, könnt Ihr den Schlüssel zu Eurer Kabine haben und Euch ungehindert auf dem Schiff bewegen.«
»Ihr verlangt nicht, dass ich Euch verspreche, nicht zu fliehen?«
»Das Schiff wird nirgendwo anlegen, wo Ihr Gelegenheit hättet zu entkommen«, beschied er sie.
»Na schön«, erwiderte sie nach kurzem Überlegen. »Aber wenn es so wenig wert ist, Euer Leben zu retten, was würde es dann erfordern, meine Freiheit wiederzugewinnen?«
Obwohl das bestimmt eine rhetorische Frage war, entschied er sich dafür, sie zu beantworten. »Das Schiff sowie seine gesamte Mannschaft zu retten, würde reichen, glaube ich. Und nun gebt mir das Schwert.«
Sie weigerte sich, es ihm auszuhändigen, er konnte aber spüren, wie sie ihre Schutzbarrieren senkte. »Nur wenn ich mein eigenes Messer zurückbekomme. Es ist extra für mich angefertigt worden.«
»Also gut. Dann kommt mit und zieht es aus Moulay Reis' Kehle.«
Er wählte ganz bewusst solch harte Worte, doch sie zuckte nicht mal mit der Wimper. Als sie sich in Bewegung setzte, fragte sie
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