Die Steine der Fatima
von der aus man in die Halle hinunterschauen konnte, sahen sie sie schon. Alle Frauen, Dienerinnen und Eunuchen schienen sich hier versammelt zu haben. Sie drängten sich um die hölzernen Gitter und steckten eng ihre Köpfe zusammen. Obwohl sie nur wenig Worte miteinander wechselten, war die allgemeine Nervosität und Anspannung deutlich spürbar. Da war etwas, das an das Summen eines Bienenschwarms erinnerte.
So schnell Sekireh es vermochte, traten sie näher. Sie drängten sich zu den anderen durch bis an das Gitter und schauten hinunter.
Unter ihnen lag die Halle. Beatrice sah sich neugierig nach allen Seiten um, aber sie konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Die Brunnen plätscherten wie immer, der herrliche Duft der Blüten stieg zu ihnen empor, und eine Handvoll junger Männer, vermutlich Beamte oder Soldaten des Emirs, spazierten gerade zwischen den Bäumen entlang und unterhielten sich leise.
»Kläre uns bitte auf, Fatma«, wandte sich Sekireh an die ihnen am nächsten Stehende. »Ist einer der jungen Männer dort unten ein Prinz aus einem fernen Reich? Oder was sonst erregt eure Aufmerksamkeit?«
Fatma sah Sekireh und Beatrice überrascht an. »Ja habt ihr denn nicht davon gehört?«
»Wovon?«
»Die Frauen haben heute während einer Versammlung beschlossen, dass der Versuch gewagt werden soll, sich unverschleiert und zur selben Zeit wie die Männer in der Halle aufzuhalten. Es wurde diese Stunde festgelegt.«
»Soll das etwa heißen, dass eine von euch tatsächlich ohne Schleier unter die Augen der Männer treten will?«, fragte Beatrice ungläubig. »Habt ihr denn bedacht, dass ihr wahrscheinlich dafür schwer bestraft werdet? Nuh II. wird euch einsperren oder…«
»Dessen sind wir uns durchaus bewusst«, unterbrach Fatma sie würdevoll. »Aber wir sind bereit, jede Strafe hinzunehmen und sie mit Gelassenheit zu erdulden, sofern sie unseren Zielen dienlich ist. Du hast uns das Beispiel gegeben, Beatrice, du hast die zehn Tage Dunkelhaft durchgestanden. Du hast uns von den Frauen erzählt, die in deiner Heimat für ihre Rechte gekämpft haben. Dazu sind auch wir bereit. Und Jambala, die sogleich als erste Frau im Harem eines Emirs von Buchara unverschleiert vor die Augen der Männer treten wird, wird jede Strafe mit Freuden auf sich nehmen.«
»Geht sie denn wenigstens freiwillig?«
»Natürlich. Es haben sich so viele Frauen gemeldet, dass das Los entscheiden musste, welche diesen denkwürdigen Schritt wagen darf.«
Voller Beunruhigung registrierte Beatrice den nahezu fanatischen Glanz in Fatmas dunklen Augen. Vermutlich hatte auch sie sich gemeldet. Fassungslos schüttelte sie den Kopf. Was war nur geschehen? Das alles klang verdächtig nach den Suffragetten, die in England für das Frauenwahlrecht gestritten hatten. Auch sie hatten Komitees gebildet und Sitzungen abgehalten, auf denen über ihr weiteres Vorgehen abgestimmt wurde. Etliche der Frauen hatten in den schweren Kämpfen, die mit Schlägereien, Inhaftierungen, Hungerstreiks und Zwangsernährung einhergegangen waren, den Tod gefunden; viele andere waren nach dem Ende des Kampfs körperlich und seelisch schwer traumatisiert. Aber das geschah zu Anfang des 20. Jahrhunderts. Hier befanden sie sich im Mittelalter, noch dazu in einem islamischen Land. Welche Lawine mochten die Frauen jetzt lostreten? Vor Beatrices geistigem Auge erschienen die Horrorvisionen von Massenhinrichtungen und einem Kerker voller schreiender, verzweifelnder Frauen, die über Jahre hinweg in Dunkelhaft gehalten wurden. Ihr wurde übel. Was hatte sie nur getan, als sie mit den anderen über die Gleichberechtigung von Mann und Frau gesprochen und ihnen dabei auch von den Suffragetten erzählt hatte? Welche Katastrophe hatte sie heraufbeschworen? Beatrice wagte nicht, Sekireh anzusehen. Sie ahnte, dass die alte Frau nicht übertrieben hatte, als sie sie vor einiger Zeit vor den Folgen der »Krankheit, die sich unter den Frauen immer weiter ausbreitet« gewarnt hatte. Nun war es schon zu spät. Oder konnte sie vielleicht doch noch etwas tun? Konnte sie Jambala daran hindern, diesen schweren Fehler zu begehen und nicht nur sich selbst, sondern auch die anderen ins Unglück zu stürzen? Sicherlich, vom humanistischen Standpunkt war es richtig und vernünftig, was die Frauen verlangten, aber sie wollten es zu schnell. Die Männer würden sie alle grün und blau prügeln – und es dabei wahrscheinlich nicht belassen.
»Fatma, wo ist Jambala?«, fragte Beatrice.
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