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Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon

Titel: Die Sterne von Marmalon - Link, C: Sterne von Marmalon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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Mark Smeaton vor, die anderen drei Männer leugneten selbst auf der härtesten Folter die gegen sie erhobenen Vorwürfe und beschworen die Unschuld der Königin. Es tauchten ein paar zweifelhafte Zeugen auf, die gesehen haben wollten, wie die Angeklagten mehrmals abends im Zimmer von Anna Boleyn verschwanden und erst nach recht langer Zeit wieder herauskamen. Auf weitere Untersuchungen verzichtete man. Alle vier wurden zum Tode verurteilt. Zum Zeitpunkt, da Anna vor Gericht erschien, lebten sie noch, aber nach geltendem Recht durften abgeurteilte Personen in keinem weiteren Prozeß als Zeugen auftreten. Somit war Anna die Möglichkeit genommen, durch eine Gegenüberstellung und ein Gespräch mit Smeaton die Glaubwürdigkeit seines Geständnisses ins Wanken zu
bringen. Ihr mußte klar sein, daß sie verurteilt war, noch ehe ihre Verhandlung überhaupt begonnen hatte.
    Mary und Nicolas waren beide an diesem Morgen zum Tower gegangen. Nicolas fehlte bei solchen Anlässen nie, und Mary wollte die Königin sehen, jene Anna Boleyn, mit deren Namen sie das traurige Schicksal der Katharina von Aragon verband und den Mordversuch an einer ihrer treuesten Hofdamen. Aber nun, da Anna selbst am Ende stand, wandelte sich Marys Abneigung fast in schwesterliches Mitleid. Ihr schauderte es, mit anzusehen, in welch einem himmelschreiend unlauteren Prozeß eine Frau rechtlos gemacht und der Willkür staatlicher Gewalt ausgesetzt wurde.
    »Ich möchte die Richter sehen«, erklärte sie am Morgen, »ich will wissen, welche Gesichter sie machen, wenn sie im vollen Bewußtsein ihrer eigenen Lügenhaftigkeit die Königin verurteilen.«
    Natürlich wußte sie, daß es nicht richtig war, hinzugehen. Jeden Tag konnte jetzt ihr Kind kommen, seit fünf Wochen arbeitete sie schon nicht mehr, so elend war sie. Sie hatte mit einer Hebamme gesprochen und die hatte nach ein paar fachkundigen Griffen gemeint, das Kind liege nicht richtig und deshalb habe sie solche Beschwerden.
    »Das wird eine schwere Geburt, Madam«, meinte sie, »heilige Mutter Gottes, nein, leicht wird es nicht!«
    » Wie beruhigend«, meinte Mary schwach, »ich werde doch nicht sterben?«
    Die Alte murmelte etwas Unverständliches und Mary wünschte sie zum Teufel. Hätte sie bloß nicht gefragt, es half ja doch nichts.
    Heute, im düsteren Saal des Towers, merkte sie schnell, daß sie einen Fehler gemacht hatte. Noch am Morgen hatte sie in temperamentvoller Entrüstung gedacht, es sei ungerecht, daß eine Frau an den großen Ereignissen ihrer Zeit nicht teilnehmen konnte, bloß weil sie ein Kind bekam, und daß man sich davon nicht einengen lassen sollte. Nun bereute sie es bitter. Sie stand mitten im dichtesten Gewühl, bekam kaum Luft, hatte den Eindruck, nur deshalb nicht umzufallen, weil es dazu keinen Platz gab, und wurde rücksichtslos von vorne, von hinten und von allen Seiten bedrängt und gestoßen, manchmal so heftig, daß sie vor Schmerz leise aufschrie.

    »Großer Gott, wenn die so weitermachen, kriege ich mein Kind jetzt, hier, auf der Stelle«, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
    Nicolas wandte sich ihr zu, sie sah, daß seine Lippen weiß waren vor unterdrückter Wut.
    »Ich hätte es nie zulassen dürfen«, fuhr er sie an, »es war Wahnsinn, hierherzukommen! Wir gehen sofort nach Hause. Diesmal widersprichst du mir nicht. Es reicht mir jetzt!« Sie wollte nicken, aber vor ihren Augen verschwamm alles. Durch einen Nebel hindurch sah sie das Gesicht auf den erhöhten Bänken, den Vorsitzenden Norfolk, die sechsundzwanzig Peers, die als Geschworene auftraten, daneben den Bürgermeister von London, die Stadtältesten, die Ältesten der Londoner Zünfte. Norfolk schlug mit einem Hammer auf den Tisch, damit Ruhe einkehrte. Sofort erstarben alle Stimmen. Durch eine Seitentür wurde eine schmale, schwarzgekleidete Frau hereingeführt, auf die sich alle Blicke richteten.
    »Das ist die Königin«, flüsterte jemand neben Mary.
    »Ja, das ist Anna Boleyn.«
    »Sie ist so blaß, seht nur, wie blaß sie ist!«
    »Die arme Frau.«
    »Aber tapfer ist sie. Sie steht ganz gerade, und wie sie die Richter anblickt!«
    Anna Boleyn beeindruckte Bürger wie Peers. Kummer und Angst des letzten Jahres, die Fehlgeburt im Januar, die Festungshaft der vergangenen Wochen hatten sie gezeichnet. Sie sah älter aus als erwartet, übernächtigt, bleich und abgemagert. Sie hielt den Kopf hoch, und diese Haltung rührte jeden, der sie heute sah. Sie entsprach nicht dem Bild, das man

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