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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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herausstellte, funktionierte auch die Wasserleitung nicht mehr, denn der Grundwasserspiegel hatte sich verändert, und neue artesische Brunnen mußten gebohrt werden. Bis das Wasser wieder sprudelte, wurde es mit Hubschraubern eingeflogen. Das alles hat man mir haarklein beschrieben, damit ich einsähe, wie unerhört gut ich doch gefahren sei mit dem so spät erfolgten Anerbieten.
    Baloyne erwartete mich auf besagtem Dach, dem Hauptlandeplatz für die Hubschrauber, das Gebäude selbst beherbergte die Verwaltung des Projekts. Wir hatten uns zwei Jahre zuvor in Washington zum letzten Mal gesehen. Baloyne ist ein Mann, aus dem man körperlich zwei und geistig wahrscheinlich sogar vier machen könnte. Er ist und bleibt vermutlich größer als seine Leistungen, weil es bei einem so begabten Menschen höchst selten vorkommt, daß alle »psychischen Pferde« gleichmäßig in ein und dieselbe Richtung ziehen. Ein bißchen dem heiligen Thomas ähnlich, der bekanntlich nicht durch jede Tür paßte, und ein bißchen dem jungen Assurbanipal – allerdings ohne Bart –, wollte er immer mehr tun, als er zu tun vermochte. Obwohl das eine pure Unterstellung ist, habe ich den Verdacht, daß er im Laufe der Jahre – nach einem anderen Prinzip und vermutlich weit umfassender – psychokosmetische Operationen an sich vorgenommen hatte, wie ich sie, auf mich bezogen, in meinem Vorwort geschildert habe. Da er insgeheim unter seinem geistigen und physischen Erscheinungsbild litt, denn er war ein unsicherer und schüchterner Dickwanst, legte er sich (ich wiederhole, das ist nur meine Hypothese) einen Habitus zu, den ich als »Ironie rund um die Uhr« bezeichnen möchte. Alles durch die Bank sagte er in Anführungsstrichen, mit einer betonten Affektiertheit und einer Übertreibung, die durch die Art, wie er sich auszudrücken pflegte, noch gesteigert wurde, so als spielte er der Reihe nach oder auf einmal mehrere Rollen, die er sich ad hoc zurechtgelegt hatte. Er schockierte also jeden, der ihn nicht gut und lange genug kannte, weil der andere niemals genau wußte, was er für die Wahrheit und was er für Lüge hielt, wann er im Ernst redete und wann er sich nur über seinen Gesprächspartner lustig machte.
    Jene ironischen Gänsefüßchen wurden schließlich zu seiner zweiten Natur. Auf die Art konnte er Scheußlichkeiten von sich geben, die man keinem anderen verziehen hätte. Er konnte sogar grenzenlos über sich selber höhnen, weil ihm jener im Grunde sehr simple Trick, konsequent angewandt, eine Unangreifbarkeit verlieh, die geradezu enorm war.
    Aus Scherzen, aus Selbstironie hatte er unsichtbare Befestigungsmauern um seine Person errichtet, so daß eigentlich auch diejenigen, die ihn, wie ich, seit Jahren kannten, seine Reaktionen nie vorauszusehen vermochten. Ich nehme an, darauf legte er besonderen Wert, und alles, was mitunter wie regelrechter Blödsinn anmutete, tat er mit heimlicher Überlegung, und es wirkte nur, als sei es die reine Improvisation.
    Unsere Freundschaft rührte daher, daß Baloyne mich zuerst unterschätzt und mich dann beneidet hatte. Das eine wie das andere amüsierte mich, wenn ich es recht betrachte. Zuerst hatte er geglaubt, als Philologe und Humanist würde er die Mathematik im Leben niemals brauchen, und da er vom Geist durchdrungen war, gab er dem Wissen über den Menschen dem Wissen über die Natur den Vorrang. Doch dann stürzte er sich in die Sprachwissenschaft wie in ein gefährliches Liebesabenteuer, begann also mit den damals vorherrschenden Moden des Strukturalismus seine Kämpfe auszufechten und fand, wenn auch widerstrebend, Geschmack an der Mathematik. Er war also ungewollt auf mein Gebiet geraten, und als er begriff, daß er dort schwächer war als ich, verstand er dies auf eine Weise zuzugeben, daß eigentlich ich mitsamt meiner Mathematik der Lächerliche war. Habe ich schon gesagt, daß Baloyne den Typ des Renaissancemenschen verkörperte? Ich mochte sein verwirrendes Haus, in dem es stets von Leuten wimmelte, so daß man nicht vor Mitternacht unter vier Augen mit dem Hausherrn reden konnte.
    Was ich bisher gesagt habe, betrifft die Befestigungen, hinter denen sich Baloyne verschanzt hatte, nicht aber ihn selbst. Es bedarf einer besonderen Hypothese, um zu erahnen, was sich intra muros abspielte. Ich vermute Angst. Ich weiß nicht, was er fürchtete, vielleicht sich selber. Er hatte wohl eine Menge zu verbergen, wenn er sich mit einem derart ausgeklügelten Getöse umgab, jederzeit so

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