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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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vieleKonzeptionen und Pläne parat hatte und sich als Mitglied unzähliger Vereinigungen und Gremien in so viele überflüssige Dinge einließ. Als eine Art professioneller Beantworter von wissenschaftlichen und unter Wissenschaftlern ausgeschriebenen Umfragen belastete er sich absichtlich übers Maß, weil er so nicht mit sich selber Umgang pflegen mußte: dafür reichte seine Zeit nie aus. Er erledigte daher die Probleme anderer, und er war ein so glänzender Menschenkenner, daß man daraus leicht die Schlußfolgerung ableiten konnte, er wisse ebenso glänzend über sich selbst Bescheid. Die vermutlich falsch war.
    Im Laufe der Jahre hatte er sich so viele verschiedene Zwänge auferlegt, bis er zu jener äußeren, gemeinhin sichtbaren Gestalt – der eines universellen Aktivisten des Geistes – verkrustet war. Er war also ein Sisyphus aus freier Entscheidung. Das Riesenmaß seiner Anstrengungen half ihm zugleich, mögliche Mißerfolge zu kaschieren; denn wenn er selbst die Regeln und Gesetze für sein Vorgehen festlegte, wußte letztlich niemand und ganz sicher, ob er auch alles in die Tat umsetzte, was er sich vorgenommen hatte, oder ob er nicht manchmal strauchelte. Zumal er sich mit seinen Niederlagen gerne brüstete, seinen geringen Intellekt hervorhob, allerdings in den ostentativen Anführungszeichen. Er hatte den spezifischen Scharfblick der vielseitig Begabten, die imstande sind, jedes, selbst ein ihnen fremdes Problem sofort, sozusagen instinktiv, von der richtigen Seite anzupacken. Er war so hochmütig, daß er sich immerzu, gewissermaßen zum eigenen Vergnügen, zur Demut zwang, und so ruhelos, daß er sich unentwegt von neuem hervortun, seinen Wert beweisen mußte, den er gleichzeitig bestritt. Sein Arbeitszimmer war gleichsam die Projektion seines Geistes. Alles dort entsprach einem Gargantua: die Kommoden, der Schreibtisch, im Cocktailkrug hätte man ein Kalb ersäufen können; von den großen Fenstern bis hin zu den Wänden dehnte sich ein einzigesSchlachtfeld aus Büchern. Offenbar brauchte er dieses von allen Seiten auf ihn einstürmende Chaos, selbst in seiner Korrespondenz.
    Ich rede so von meinem Freund (und verscherze mir seine Gunst), weil ich vorher nicht anders über mich selbst geredet habe: Ich weiß nicht, inwieweit es auch in den Beteiligten selber lag, daß das Projekt letztlich diesen Ausgang nahm. Gewissermaßen für alle Fälle und mit dem Gedanken an die weitere Zukunft stelle ich also auch Teile dar, die zu einem Ganzen zusammenzufügen ich selbst außerstande bin – vielleicht gelingt es einmal einem anderen.
    Vernarrt in die Geschichte und den Blick unverwandt auf sie geheftet, fuhr Baloyne quasi im Rückwärtsgang in die Zukunft hinein. Die Neuzeit sah er als Zerstörerin der Werte und die Technologien als Werkzeuge des Satans. Wenn ich übertreibe, dann nur unerheblich. Er war überzeugt, daß die Blütezeit der Menschheit schon ziemlich lange zurück, vielleicht in der Renaissance, liege und daß eine lange, immer schneller werdende Talfahrt begonnen habe. Obwohl er ein renaissanceartiger Homo animatus und Homo sciens war, fand er Gefallen an Kontakten zu Leuten, die ich zu den am wenigsten interessanten, wenn auch für unsere Gattung gefährlichsten rechne, nämlich zu Politikern. Von einer politischen Karriere träumte er nicht, und wenn ja, verheimlichte er es sogar mir. Aber allen möglichen Gouverneursanwärtern und deren Gattinnen, Bewerbern für einen Sitz im Kongreß oder bereits »gemachten« Kongreßabgeordneten, zusammen mit ergrauten und verkalkten Senatoren sowie jenen Mischlingen, jenen halb- oder viertelgewalkten Politikern mit hohen Ämtern, die in Nebel gehüllt sind – aber in einen Nebel bester Sorte –, begegnete man bei ihm außerordentlich häufig.
    Die krampfhaften Anstrengungen, die ich machte, umein Gespräch mit solchen Leuten aufrechtzuerhalten – und ich tat dies nur aus Rücksicht auf Baloyne –, wurden binnen fünf Minuten zunichte, während er es fertigbrachte, stundenlang mit ihnen leeres Stroh zu dreschen, Gott weiß, wozu! Ich habe ihn niemals direkt danach gefragt; nun aber stellte sich heraus, daß diese Kontakte Früchte trugen, denn bei der Musterung der Kandidaten für das Amt des wissenschaftlichen Leiters von »Master’s Voice« zeigte sich, daß alle Berater, Sachverständigen, Mitglieder und Vorsitzenden sowie Vier-Sterne-Generale, daß sie wirklich alle ausschließlich Baloyne wollten und nur ihm allein vertrauten. Er brannte

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