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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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begriffen, sondern ich hätte gefühlt, daß es um all unsere Freiheiten in dem Augenblick geschehen sein könnte, da wir das hergestellt haben würden, was man von uns erwartete, und wer weiß, ob ich dann so leicht eingewilligt hätte. Aber selbst ein Konklave kann man, wenn man nur langsam und geduldig genug vorgeht, in den Kannibalismus treiben. Der Mechanismus der psychischen Anpassung ist unerbittlich.
    Wenn jemand der Madame Curie gesagt hätte, daß aus ihrer Radioaktivität fünfzig Jahre später Gigatonnen und »Overkill« entstehen würden, sie hätte vielleicht nicht den Mut gehabt zu arbeiten, ganz sicher aber hätte sie nach dem durch diese Verheißung ausgestandenen Entsetzen ihre frühere Ruhe nicht wiedergefunden. Doch wir haben uns daran gewöhnt, und Menschen, die in Kiloleichen und Megatoten rechnen, hält niemand für Verrückte. Unsere Fähigkeit, uns anzupassen und – dadurch bedingt – alles zu akzeptieren, ist eine unserer größten Gefährdungen. Wesen, die anpassungsmäßig hochflexibel sind, können nicht über eine Moral verfügen, die nicht auch dehnbar wäre.

V
    Das Schweigen des Weltalls, das berühmte Silentium universi, das vom Getöse der lokalen Kriege um die Mitte des Jahrhunderts wirksam übertönt wurde, ist von vielen Astrophysikern als feststehende Tatsache angesehen worden, da die beharrlichen funktechnischen Abhörversuche – angefangen vom Projekt Ozma bis hin zu den jahrelangen Untersuchungen der Australier – ergebnislos geblieben waren.
    Während dieser Zeit waren neben den Astrophysikern auch andere Spezialisten am Werke gewesen, sie hatten »Loglan« und »Lincos« und eine Reihe weiterer künstlicher Sprachen ersonnen, die sie bei der Herstellung einer interstellaren Verbindung einzusetzen gedachten. Es wurden zahlreiche Erfindungen gemacht, wobei man davon ausging, daß es wirtschaftlicher sei, statt Wörter Fernsehbilder zu senden.
    Theorie und Methodologie des KONTAKTS schwollen allmählich zur Bibliothek an. Es war mittlerweile genau festgelegt, wie sich eine Zivilisation zu verhalten habe, die mit »den anderen« in Verbindung zu treten wünschte. Eingangs mußten in einem breiten Frequenzbereich rhythmische Rufzeichen gesendet werden, die erstens ihren künstlichen Ursprung zu erkennen gaben und darüber hinaus die Kilo- oder Megahertzfrequenzen aufzeigten, in denen die eigentliche Sendung zu suchen war. Diese sollte durch eine systematische Darstellung der Grammatik, der Syntax und der Lexik eingeleitet werden – es war ein regelrechtes Savoir-vivre, das man für das gesamte Weltall aufgestellt hatte und das allgemein verbindlich sein sollte, bis hin zum fernsten galaktischen Nebel.
    Nun hatte aber der unbekannte Absender einen fatalen Fauxpas begangen, indem er einen Brief ohne Einführung,ohne Grammatik und ohne Lexik abschickte, einen riesigen Brief, der auf nahezu einem Kilometer Datenband aufgezeichnet war. Als ich das erfuhr, war mein erster Gedanke, daß der Brief entweder nicht für uns bestimmt gewesen war und wir uns rein zufällig auf der Sendelinie zwischen zwei »sich unterhaltenden« Zivilisationen befunden hatten oder daß er für solche Zivilisationen gedacht gewesen war, die eine bestimmte »Wissensschwelle« überschritten hatten und somit fähig waren, das schwer zu entdeckende Signal aufzufinden und seine Bedeutung zu enträtseln. Falls das erstere zutraf und wir der zufällige Empfänger waren, hatte das Problem des »Sich-nicht-andie-Regeln-Haltens« gar nicht bestanden. Falls die zweite Möglichkeit zutraf, wurde sie um einen neuen, ganz eigenen Aspekt bereichert: Die Information war nämlich – so stellte ich es mir vor – gewissermaßen gegen »Unberufene« abgesichert worden.
    Nach unserem Wissensstand ließ sich, da wir weder die Elemente des Codes noch die Syntax oder die Lexik kannten, die Nachricht nicht anders dechiffrieren als mit der Methode von Versuch und Irrtum, indem man die Häufigkeitsanalyse anwandte – wobei der Erfolg zweihundert Jahre, zwei Millionen Jahre oder auch die volle Ewigkeit auf sich warten lassen konnte. Als ich erfuhr, daß sich unter den Mathematikern des Projekts auch Bear und Sharon befanden und Radcliff der Hauptprogrammierer war, beschlich mich ein unbehagliches Gefühl, und ich machte durchaus keinen Hehl daraus. Daß man sich überhaupt an mich gewandt hatte, mutete bei der Lage der Dinge seltsam an, und mich erfüllte nur das eine mit leiser Zuversicht – daß in der Mathematik unlösbare

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