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Die Stimme des Herrn.

Die Stimme des Herrn.

Titel: Die Stimme des Herrn. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stanislaw Lem
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Aufgaben existieren und daß sie für drittrangige Rechenmeister und für die genialsten Köpfe gleichermaßen nicht zu bewältigen sind. Doch eine Chance schien es wohl noch zu geben, sonst hätte Baloyne nicht auf Sharon und Bear gehört gehabt. Offenbar meinten sie, wenn schon nicht sie, dann werde vielleicht ein anderer in diesem ungewöhnlichen Kampf erfolgreich sein.
    Zahlreichen Meinungen zum Trotz ist die begriffliche Übereinstimmung in den Sprachen aller irdischen, wenngleich verschieden gearteten Kulturen verblüffend. Das Telegramm »Großmutter gestorben Begräbnis Mittwoch« läßt sich in jede beliebige Sprache übersetzen – vom Latein über das Hindi bis hin zu den Dialekten der Apachen, der Eskimos oder des Dobustammes. Gewiß wäre das sogar mit der Sprache des Moustérien zu bewerkstelligen, würden wir sie kennen. Das rührt daher, daß jeder Mensch natürlicherweise eine Mutter seiner Mutter hat, daß jeder stirbt, daß Rituale der Leichenbeseitigung eine Invariante der Kulturen sind, ebenso wie das Prinzip der Zeitrechnung. Eingeschlechtliche Wesen hingegen können eine Unterscheidung nach Mutter und Vater nicht vornehmen, und solche, die sich womöglich wie die Amöben teilen, brauchten nicht einmal einen Begriff für einen eingeschlechtlichen Erzeuger zu bilden. Sie kämen folglich nicht dahinter, was »Großmutter« zu bedeuten hat. Nichtsterbliche Wesen – die Amöben sterben nicht, während sie sich teilen – würden weder den Begriff »Tod« noch den Begriff »Begräbnis« kennen. Sie müßten daher zuallererst die Anatomie, die Physiologie, die Evolution, die Geschichte und das Brauchtum des Menschen kennenlernen, bevor sie an die Übersetzung dieses für uns so eindeutigen Telegramms gehen könnten.
    Das Beispiel ist simpel, denn es setzt voraus, daß derjenige, der ein Signal empfängt, weiß, was darin informationstragende Zeichen sind und was deren unwesentlichen Hintergrund bildet. Beim »Brief von den Sternen« lag der Fall gerade andersherum. Der aufgezeichnete Rhythmus konnte zum Beispiel lediglich Interpunktionszeichen enthalten, während die Impulse, die die eigentlichen »Buchstaben« oder Ideogramme darstellten, vielleicht gar nicht auf dem Band registriert worden waren, weil die Apparatur gerade für sie nicht empfänglich war.
    Eine Sache für sich war der mögliche Unterschied im Entwicklungsniveau zwischen den Zivilisationen.
    Nach der goldenen Totenmaske des Amenhotep bestimmt der Kunsthistoriker die Epoche und ihren Kulturstil. Der Religionswissenschaftler leitet aus ihrer Ornamentierung die damaligen Glaubensvorstellungen ab. Der Chemiker findet heraus, welche Methode bei der Goldbearbeitung damals angewandt wurde. Der Anthropologe kann sagen, ob sich der 6000 Jahre alte Vertreter der Gattung vom heutigen Menschen unterscheidet, und der Arzt stellt die Diagnose, das Amenhotep an Hormonstörungen litt, was seine Kiefer akromegalisch deformierte. Auf die Art liefert ein 6000 Jahre alter Gegenstand uns Heutigen weit mehr Informationen, als dessen Schöpfer besessen haben, denn was wußten die schon über die Chemie des Goldes, die Akromegalie oder die Kulturstile? Wenn wir die Prozedur zeitlich umkehren und einem Ägypter aus der Zeit des Amenhotep einen heute verfaßten Brief schicken, wird er ihn nicht lesen können – nicht nur, weil er nicht über Wörter und Begriffe verfügt, denen er die unseren zuordnen könnte.
    So sahen die allgemeinen Überlegungen rund um den »Sternenbrief« aus. Was wir über ihn wußten, wurde nach praktischem Brauch in einem Modelltext zusammengefaßt, der auf Band aufgenommen und vor den Very Important Persons abgespielt wurde, die uns besuchten. Statt seinen Inhalt mit eigenen Worten wiederzugeben, zitiere ich wörtlich:
    »Aufgabe des ›Master’s Voice‹-Projekts ist es, die sogenannte Nachricht von den Sternen allseitig zu erforschen und – wenn möglich – zu übersetzen. Bei dieser Nachricht handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Serievon Signalen, die mittels künstlicher technischer Apparaturen von einem oder mehreren Wesen einer nicht näher bestimmbaren außerirdischen Zivilisation intentional gesendet werden. Träger der eigentlichen Information ist ein Strom von als Neutrinos bezeichneten Teilchen, die keine Ruhemasse besitzen und mit einem um das 1600fache geringeren magnetischen Moment ausgestattet sind als die Elektronen. Die Neutrinos haben das größte Durchdringungsvermögen unter den uns bekannten

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