Die Strafe - The Memory Collector
davonkommen? Jo äugte hinüber zu Shepard. Sein bärtiges Gesicht war bleich und angespannt. Es war nicht schwer, seinen Blick zu deuten: Die Zeit wird knapp.
Ein Stück weiter vorn waren Riva und der Krakauertyp zu grauen Konturen verschwommen. Nach zehn Metern verschluckte der Nebel alles.
Wenn die in den Nebel verschwinden können, kann ich das auch.
Auf dem Beifahrersitz wischte sich Vance mit dem Handrücken über die Nase. Neben ihr atmete Shepard schwer und bewegte sich unruhig wie ein eingesperrter Bulle.
Jetzt hielt er die linke Hand neben das Knie und gab ihr ein Zeichen. Zwei Finger - er und sie. Ein Finger - der Mann vor ihnen. Zwei gegen einen.
Hatte Shepard überhaupt mitgekriegt, dass Vance eine Pistole hatte? Siebzig Zentimeter von ihrer rechten Hand entfernt ruhte die Waffe auf den Knien der Bohnenstange. Zwei gegen einen, sicher. Aber möglicherweise auch zwei gegen soundso viele Kugeln im Magazin.
»Was glotzt du so?«, zischte Vance.
Einen Moment lang fixierte sie ihn ganz bewusst. »Schlechte Chancen.«
Der Motor des Geländewagens stotterte, weil er schon so lang im Leerlauf war. Beunruhigt sah Vance nach dem Armaturenbrett.
Wie aus dem Nichts stürzte sich Shepard auf ihn.
Von beiden Seiten die Arme um den Sitz schlingend, packte er Vance am Sweatshirt und zerrte ihn nach hinten gegen die Lehne. Er warf den Arm um Vance’ Hals, krallte die Hände ineinander und zog mit der ganzen Kraft seines massigen Körpers nach hinten.
Nach Luft schnappend, hing Vance an der Kopfstütze. Er trat um sich und kratzte über Shepards Arm. Endlich konnte
Jo reagieren. Sie riss das rechte Knie hoch, um die Schuhsohle von der Mittelkonsole zu lösen. In Vance’ Schoß hüpfte die Waffe.
Sie trat ihm voll gegen die Schädelseite.
Sein Kopf kippte weg, und Jo hörte das Knacken von Zähnen. Mit wild fuchtelnden Händen zerrte er an Shepards Arm.
»Los«, rief Shepard.
Er meinte: über die Mittelkonsole und vorbei an Vance. Ihr Herz hämmerte. Jetzt konnte sie nicht mehr aufhören. Wenn sie aufhörte, wurde sie erschossen. Eine Situation, die keine Zweifel offenließ. Kämpfen oder sterben.
Wütend, ja hysterisch trat Jo erneut nach seinem Kopf, nach seinem Arm, nach der Waffe. Vance schlug wild um sich und gab gurgelnde Geräusche von sich.
Und griff nach der Waffe. Er riss sie hoch und drückte ab.
Das Magazin fiel heraus.
Einen atemlosen Sekundenbruchteil lang starrten Vance und sie reglos auf die Waffe, die unbenutzt in der Luft schwebte.
Dann holte Vance damit aus und drosch sie hart auf Shepards Hände. Hektisch kletterte Jo über die Konsole auf den Fahrersitz.
Sie hörte nicht, wie die Tür geöffnet wurde, sondern spürte nur einen kalten Luftzug. Klobige Hände fassten sie um die Hüfte und rissen sie rückwärts aus dem Auto. Der Krakauertyp warf sie herum und trug sie weg.
Calder eilte zur Tür. »Alec, du Arschloch.«
Jo schlug wild um sich, aber die Chance war vertan. Shepard rang noch immer mit Vance. Anscheinend hatte er die
Beherrschung verloren und vergessen, dass Riva eine Pistole hatte.
Sie hob sie hoch und zielte in den Tahoe.
»Nein!«, rief Jo.
Calder fuhr herum. »Warum nicht?«
»Weil ich weiß, wie wir an Ian rankommen.«
Das war gelogen, aber etwas anderes war ihr nicht eingefallen.
Riva schüttelte den Kopf. »Murdock.« Sie deutete. »Halt die kleine Schlampe fest.«
»Aha, die Verkaufsabteilung kämpft also mit harten Bandagen.« Der Krakauertyp umschlang Jo noch fester und drückte ihr die Hand brutal unters Kinn, bis sie den Kiefer nicht mehr bewegen konnte.
Nun riss Vance seine Tür auf und sackte vom Beifahrersitz, die Hand am Hals. Blut troff ihm aus der Nase.
Calder zielte mit der Pistole auf Shepard. »Du holst jetzt die letzten Slick-Proben und gibst sie mir.«
»Da wirst du kein Glück haben«, erwiderte Shepard.
Die Waffe in ihrer Hand zuckte. »Raus.«
Vance öffnete die hintere Tür, und Shepard kletterte aus dem Wagen.
Calder stieß ihn in den Schatten. »Ich habe das Projekt möglich gemacht. Ohne mich wäre gar nichts gelaufen«, zischte sie.
»Riva, um Himmels willen …«
»Ich hab die Finanzierung besorgt. Ich hab den Deal für die Eröffnung des Labors in Johannesburg ausgehandelt, damit die Firma das Zeug billig und ohne staatliche Überwachung durch die USA produzieren kann. Ich.«
»Geht’s dir darum? Um Anerkennung?«
Sie schlug ihm ins Gesicht. Hart und schlecht gezielt, wie ein wütendes Kind. »Anerkennung? Du hast
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