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Die Strasse ohne Ende

Die Strasse ohne Ende

Titel: Die Strasse ohne Ende Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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vergessen, während der Omnibus um die Ecke des Boulevard de la République bog? Dann war alles Warten vergeblich, dann gab es kein Zurück mehr, und sie mußte alles ertragen, was sie ahnungslos wie ihre zwölf Kolleginnen unterschrieben hatte.
    Leise verließ sie das dumpfe, enge Zimmer und trat an die Treppe. Unten im Flur hörte sie den Wirt mit einem anderen Araber sprechen; es war nicht Omar, das hörte sie am Klang der Stimme. Durch die Türen der anderen Zimmer klang das Schluchzen der Mädchen. In dem größten Loch, in dem vier Mädchen wohnten, hörte man Fluchen und das verzweifelte Trommeln von Fäusten auf dem morschen Fensterbrett.
    Hilde rannte in ihr Zimmer zurück und packte in großer Eile ihre Koffer aus. Sie setzte sich auf das schmierige Bett, legte einen Schreibblock auf die Knie und schrieb mit großen Buchstaben einen kurzen Brief: »Rette mich! Man hält uns mit Gewalt hier fest. Hôtel des Pyramides. – Der Wirt ist ein Ekel! Wenn du kommst, mußt Du ihn überwältigen. Aber warte nicht länger, ich kann es nicht mehr aushalten. Hilde.«
    Dann saß sie wieder am Fenster und starrte vor sich hin. Wie sollte der Brief jemals zu Paul Handrick kommen? Niemals würde der Wirt den Brief befördern. Und es gab keine andere Möglichkeit, einen Boten zu schicken.
    Sie klebte das Kuvert zu und schrieb als Adresse: »Dr. P. Handrick, Institut de la Santé, Algier.« Dann breitete sie ihren Staubmantel auf dem Bett aus, legte ihn über die zerrissene und speckige Decke und streckte sich auf ihm aus. Und plötzlich brach es aus ihr heraus, sie wandte das Gesicht zur Wand, von der die Tapete herabhing, und weinte …
    Wie lange sie gelegen hatte, wußte sie nicht. Als sie die Augen aufschlug, war es dunkel im Zimmer. Durch das offene Fenster quoll mit dem Gestank der Kloake der Abend. Von weither hörte sie eine helle Stimme schreien. Sie erinnerte sich der Reisebücher, daß in ihnen die Rede von dem Muezzin war, der fünfmal am Tag die Gläubigen vom Minarett der Moschee zum Gebet ruft.
    Lauschend richtete sie sich auf und trat dann ans Fenster. Der Hof lag in tiefen Schatten. Neben dem Abfallhaufen hockte ein kleiner Junge und durchsuchte die Küchenreste nach etwas Eßbarem. Wenn er ein Stück Brot fand oder einen unsauber abgenagten Knochen, steckte er sie sofort in den Mund und aß mit Behagen. Der Muezzin schrie noch immer; seine Stimme tönte über das Gewirr der Kasbah und pflanzte sich fort, als hätte sie die Gewalt eines Windes.
    Hilde beugte sich aus dem Fenster und winkte mit beiden Händen. »Pst!« rief sie. »Pst!«
    Der Junge neben dem Abfallhaufen blickte hoch und versteckte schnell ein Stück Brot. Dann grinste er und kam näher, stellte sich unter das Fenster und nickte.
    Hilde legte den Finger auf die Lippen; der Junge nickte wieder und verstand das Zeichen. Er streckte seine Hand empor, den schmutzigen Handteller nach oben. Gib erst Geld!
    Hilde griff in die Tasche und warf ihm einen Hundert-Francs-Stück zu. Dann reichte sie ihm den Brief hinab, zeigte auf die Adresse des Kuverts und machte die Bewegung des Laufens und Abgebens. Der Junge nickte und lächelte und streckte wieder seine Hand hin. Hilde gab ihm einen Fünfhundert-Francs-Schein, den er schnell in seine Tasche steckte. Dann sah er sich sichernd wie ein Wild um, rannte mit langen Sprüngen durch den Hof und verschwand hinter einer kleinen Tür, die auf die Straße führen mußte.
    Aufatmend sah Hilde, wie sich die Tür hinter dem Rücken des Jungen schloß. »Mein Gott«, sagte sie leise, »hilf mir, daß er den Brief richtig abgibt.« Sie war gerade ins Zimmer zurückgetreten und beugte sich über die Koffer, als der Wirt, ohne anzuklopfen, eintrat und eine brennende Öllampe auf den Tisch stellte.
    Er musterte Hilde mit dem Blick eines Roßkäufers und zeigte auf das Fenster. »Nix gutt, aus Fenster«, sagte er lächelnd. »Nachts auf Hoff großes Hund.« Er machte die Bewegung des Beißens und hob die Faust. »Schlafen!« sagte er hart. Dann schob er sich wieder aus der Tür und drückte sie quietschend hinter sich zu.
    Gegen zehn Uhr abends, als Hilde sich vergeblich zu zwingen versuchte, auf dem schmutzigen Bett zu schlafen, klopfte es kurz. Verwundert über diese Höflichkeit, sagte sie: »Ja?«, und Omar Ben Slimane trat ins Zimmer.
    Er sah sich nicht um, sondern ging zu dem einzigen Stuhl und setzte sich Hilde gegenüber, die auf dem Bett hockte. »Sie haben den Wirt geschlagen?« fragte er ohne

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