Die Strudlhofstiege
Porzellangasse, ansonst typisch für eine ›Herrschafts-Wohnung‹ der Achtziger-Jahre, enthielt ein einziges Wohnfach, welches nicht, wie die anderen, eine Welt ohne Mittelpunkt, sondern durchaus um einen solchen zentriert war: E. P.s Zimmer: vor konventionellem Möbelhintergrunde die bunten Einzelheiten und Arabesken eines sehr spezifischen Lebens wie eine Schrift weisend. Es erklang dieser Raum übrigens in einer seltsam hohlen und klagenden Weise wie eine Äolsharfe, wenn unten durch die lange und hier ganz gerade Gasse ein Straßenbahnzug rasch dahinglitt: denn das eine Ende eines quertragenden starken Kabels, daran die Leitungen hingen, war in der Ecke des Hauses verankert, dicht beim Zimmer des kleinen E. P. »Wann immer ich später und anderswo diesen Ton in einer Wohnung hörte«, so hat René noch im Jahre 1927 zu Kajetan von S. gesagt, als er ihm diese ganzen Sachen erzählte, »ist E. P. in mir aufgestiegen, mit seinem Zimmer, den seltsamen grellfarbenen Puppen darin, mit seinen Büchern, seinen leicht getrübten Augen, seiner Heftigkeit, seiner Güte und seinem Wert.«
Der Raum war groß, quadratisch und im ganzen eher dunkel; wie man schon bemerkt hat, lag er im ersten Stockwerk, sonst hätte da keine Aufhänge-Vorrichtung für die Freileitung der Straßenbahn sein können.
Im Vorzimmer der großen Wohnung war ein Telephon-Apparat auffallend tief angebracht, man mußte sich setzen, um zu sprechen: gleichwohl, die Einrichtung war für stehendes Sprechen gedacht, und zwar für jemand ganz überaus Kleinen, nämlich für E. P.s Mutter: so winzig war sie. Man sah sie selten. Jedes in Erscheinung-Treten seiner Angehörigen erzeugte bei E. P. übrigens eine Art von Schauder, den er gar nicht verbarg. Die Mutter ist den Wenigen, welche sie näher gekannt haben, als ein gutes, feines, trauriges Wesen in Erinnerung. Mag sein, daß ihr jüngerer Sohn den Vater haßte, aus der Meinung, die Mutter sei durch jenen unglücklich geworden.
Der Major Melzer hat den E. P. und dessen Frau 1924 kennen gelernt, in einem kleinen Beisl, wo Melzer als Junggeselle dann und wann auch abends zu essen pflegte, unweit der Miserowsky'schen Zwillinge, auf der gleichen Seite, nur etwas weiter gegen die Stadt zu. E. P. und Gattin kamen hierher mit einiger Regelmäßigkeit am Samstagabend, denn Frau Roserl, die ja bis ein Uhr mittags, ebenso wie ihr Mann, noch in der Bodencreditanstalt gesessen war, wollte an diesem einen Abende am Ende der Woche ihrer Hausfrauenpflichten überhoben sein. Die Bekanntschaft mit dem ruhigen und bescheidenen Ehepaar machte sich von Seiten des Majors – damals schon ein Amtsrat in der Generaldirektion der Tabakregie und ebenfalls in der Porzellangasse wohnend – einfach aus Affinität, wenn nicht Sympathie, und bei E. P. und seiner Frau verhielt sich das wohl ebenso. Man war einmal an den gleichen Tisch zu sitzen gekommen; und das übrige ergab sich von selbst. E. P. neigte überhaupt zur Zuneigung, möchte man sagen, noch bevor sich dieser allenfalls ein Gegenstand bot. Nicht lange nach dem ersten Zusammentreffen, es mochten etwa vier oder sechs Wochen inzwischen vergangen sein, ließ er den Major durch seine Frau für Sonntag zu Tisch bitten. Und der Kontakt hier an privater Stätte – noch immer war es das große Speisezimmer mit einem burgartigen eichenen Büffet – gestaltete sich so, daß damit ein dauernder Verkehr begründet wurde. Der Kleine hat vielleicht, wie er meinte, in Melzer, sechs Jahre nach dem Kriege und dem Untergange der Habsburger Monarchie, dasjenige erst richtig beisammen gefunden in allen Stücken, was er sich unter einem k. u. k. Offizier eigentlich immer vorgestellt hatte, ja vielleicht ohne während seiner Militärdienstzeit einer vollen und ganzen Entsprechung jenes inneren Bildes in der äußeren Wirklichkeit je zu begegnen (mit einer einzigen Ausnahme, nämlich der des Jägerhauptmanns Sch. welchen er auch dann und wann und gar nicht selten erwähnte). So überlebte denn hier eine Idee das Ende der Sache selbst und gelangte sechs Jahre nach jenem Ende noch für E. P. zu einer Konkretion. Wenn etwas uns inwärts Bewohnendes plötzlich von dortaußen herankommt, sind wir immer hochbefriedigt (und das sogar auch in schlimmen Fällen, wenigstens durch einen winzigen Augenblick).
Der Major hat erst aus einem Gespräche, das am 22. August 1925 (ein Samstag) am unteren Ende der Strudlhofstiege stattfand – oder eigentlich begann, um späterhin des längeren fortgesetzt zu
Weitere Kostenlose Bücher