Die Strudlhofstiege
An jenem erwähnten Abende der schon heißen Jahreszeit hatte man nach eingebrochenem Dunkel das Diner auf dem Dachgarten genommen: und durchaus, während der ganzen Stunden bei Tische und nachher, war in Editha jene Vorstellung schwebend gegenwärtig wie ein sinkender und steigender Farbfleck im innern Augenlid: die weiße, immer noch fast kindliche Wölbung des Abdomens über der Lende, der dünne rote Strich. Enrique reichte ihr eine Schale mit Erdbeeren. Wie aus einem Raum heraus, der vor ihr versperrt worden war. Der rote Strich verband das Paar, Editha war die Dritte. Jetzt erhob er sich wieder, aus der Schale mit den Früchten, aus dem vom Ventilator-Luftzug schwankenden Zacken-Schatten eines palmenartigen Kübel-Gewächses über dem Tafel-Linnen, schwebte über diesem Weiß, drang durch ihr Kleid, nähte als Nadel vergeblich an einer Naht am Herzen, immer anwesend. Auch jetzt.
»Ich wünsche endlich einmal genau zu wissen, was bisher in der Sache Melzer geschehen ist, was du erreicht oder nicht erreicht und vor allem auch, was du verpatzt hast. Möchtest du mir das nicht sagen?!«
Für Mimi kam's wohl jetzt erst zur vollen Anschauung (Evidenz), wie die Sachen eigentlich lagen, nämlich daß sie gar nicht betrieben worden waren. Ihr blieb nichts anderes, als ein spärliches Mücklein, das da flatterte, in's Auge zu fassen, als sei's ein großer, in unbestimmter Ferne fliegender Vogel, und ebenso davon zu reden: »Ich habe den Major wegen dieser deiner Sachen befragt, schon im Juli, aber er hat mir nicht sogleich eine genaue Auskunft zu geben vermocht. Er hat versprochen, sich zu erkundigen, wie das zur Zeit beim Einkauf größerer Mengen gehandhabt wird. Ich wünschte unter vier Augen mit ihm darüber zu sprechen, und so habe ich ihn denn hierher zum Tee gebeten. Aber er ist nicht gekommen.«
»Schon – im Juli!« rief Editha. »Und er ist nicht gekommen! Du Arme! Er ist wohl nie gekommen?!«
»Nein«, sagte Mimi einfach, da ihr denn schon Editha mit allen vier Füßen in der Seele stand. Sie konnte sich ja kaum mehr rühren.
»Und mit welcher Begründung ist er damals nicht zum Tee erschienen?«
»Er war krank, sehr stark verkühlt.«
»Stimmt«, bemerkte Eulenfeld auf's Geratewohl und im Tone vollkommener Sicherheit. »Ich war um die Mitte des Juli einmal bei ihm, da ist er gelegen.«
»Das hast du mir aber nie erzählt«, sagte Mimi; zugleich sah sie ihn an wie einen alten Freund, der jetzt bewiesen hat, daß man auf ihn sich verlassen könne. Ihr an sich unkluger Einwand kam so echt und in einem beinah zärtlich-besorgten und vorwurfsvollen Tone, daß für Editha nur eine einzige Deutung, jedoch kein Zweifel an der Wahrheit von Eulenfelds Mitteilung übrig blieb.
Nebenbei hatte auch Mimi gelogen. Denn einmal war Melzer doch gekommen, nämlich am Dienstag nach jenem Samstage, da sie ihn vergeblich erwartet und in der weiteren Folge die Rokitzer geohrfeigt hatte. Allerdings war der Major zu keiner Teestunde gekommen, sondern zur sehr offiziellen elften Stunde, punkt elf sogar, am Vormittage, nicht ohne Blumen, und seines Bleibens waren vielleicht ganze zehn Minuten gewesen … Sie sah dies jetzt vor sich, die Mimi Scarlez: »Meine liebe Gnädige, ich komm' mich nochmals entschuldigen …« (Sie verstand es eigentlich nicht ganz, dies ›nochmals‹ nämlich.) »Ja, ja«, hatte sie darauf gesagt. Und er: »Sie haben mich ja nicht mehr erwartet, am Samstag?« »Nein, nein.«
»Heut' bin ich wieder im Amt. Ich war recht schlimm daran. Jetzt hab' ich mich für eine Viertelstunde freigemacht, um auf einen Sprung herüber zu kommen.«
Es war heiß gewesen: der Vormittag wie eine vorgehitzte leere saubere Schüssel.
Sie hatte die Blumen, sehr fleischige schwere Gladiolen, noch gehalten, wieder allein, und ein wenig an sich gedrückt. Nun, das war alles gewesen.
»Aber später«, rief Editha, »wirst du ihn ja wiedergesehen haben, den Herrn Major Melzer?! Er ist ja an der Grippe, oder was es da war, im Juli, nicht gestorben?!«
Nun freilich war Mimi der spärliche Vorrat an zu berichtenden Aktionen endgültig ausgegangen. Kein Mücklein war mehr da, aus dem man einen Vogel hätte machen können (von einem Elefanten ganz zu schweigen). Nun war sie in die Enge getrieben, vor dem Bilde des Gegenteiles sitzend, dem sonnig durchwobenen Luftabgrund der Weite, dem Kahlenberg mit seinem durch die fernen Baumwipfel etwas aufgelösten, wie schaumigen Rande, fast gelüpft und verschwebend in den
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