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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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standen Fahrzeuge. Bindig sah von dort wieder auf das Gehöft, und dann begriff er, daß er keiner Täuschung zum Opfer gefallen war. Dort stand der Eimer vor der Tür. Es gab keinen Zweifel: Hinter der Tür, in derselben Küche, in der Bindig zum erstenmal zusammen mit ihr an einem Tisch gesessen hatte, war Anna. Er versuchte aufzustehen. Es gelang, aber er brauchte fast alle seine Kräfte dazu. Er rutschte aus und fiel die Böschung hinunter. Als er sich am Boden des Hohlweges wieder aufgerafft hatte, torkelte er schrittweise vorwärts. Er wußte plötzlich, daß dies die letzte Anstrengung war, zu der er sich zwingen konnte.
    Es war stockdunkel, als er das Gehöft erreicht hatte. Das Hoftor war noch immer offen. Als Bindig es passiert hatte, begann das Haus vor seinen Augen zu schaukeln und zu kreisen. Mit Mühe gelang es ihm, die Haustür zu öffnen. Er tastete sich mit halbgeschlossenen Augen durch die Dunkelheit des Flurs. An der Küchentür nahm er einen Lichtschein wahr. Er wußte nicht, daß sein Gesicht und seine Kleider blutverschmiert waren, daß seine Hände voller verkrustetem Blut und Schmutz waren, daß sein Gesicht bleich und hohlwangig aussah und der Fetzen, den er um den Kopf gewickelt hatte, einem roten Fahnentuch ähnlicher sah als einem Stück weißer Leinwand.
    Er tastete nach der Türklinke und drückte sie herunter, und als die Tür nachgab, stürzte er der Länge nach in die Küche.
    Er hatte den Offizier, der am Tisch saß, noch wahrgenommen, aber weder ahnte er, daß es Warasin war, noch, daß er gekommen war, um Anna eins von den großen, in Formen gebackenen Kommißbroten und ein paar kleine Säckchen mit Hirse und Bohnen zu geben. Er hörte die Frau nicht mehr aufschreien und sah nicht mehr, wie Warasin aufsprang und zu ihm eilte.
    Die Frau schlug die Hände vor das Gesicht. Warasin rüttelte Bindig. Dabei fragte er aufgeregt: „He... hören Sie! Wie kommen Sie ... in diese Uniform ..."
    Dann sah er unter dem verrutschten Fetzen Stoff die Wunde am Kopf. „Mein Gott!" schrie Anna. „Mein Gott, was ist... was ist nur..."
    „Eine Kopfverletzung", sagte Warasin leise, „geben Sie mir ein paar saubere Tücher und warmes Wasser. Schnell... geben Sie..."
    Thomas Bindig:
    Es starben alle Träume
    Er trug den schwarzen Konfirmandenanzug zum zweitenmal. Zum erstenmal hatte er ihn bei der Konfirmation angehabt, und nun wurde der Vater begraben.
    Er stand neben der Mutter und hörte ihr Schluchzen, Er sah auch die verweinten Gesichter der drei anderen Geschwister. Es waren alles Mädchen. Kleine, rotznäsige Mädchen mit Zöpfen. Es wollte ihm nicht so recht gelingen zu weinen. Er erinnerte sich, daß er in der Volksschule, wenn er Prügel bekam, niemals vor den anderen geweint hatte. Immer erst später, wenn ihn keiner sah.
    Der Anzug war ihm zu eng, aber er würde ihn noch lange tragen müssen.
    Der Vater war Werkmeister in der Gummifabrik gewesen, aber jetzt gab es keinen Vater mehr, und er war der Älteste in der Familie. Während der Pfarrer die Trauerrede murmelte, überlegte Thomas Bindig, woher er jetzt das Schulgeld für das Gymnasium nehmen sollte. Und dann zu Hause, als er allein war, weinte er.
    Es war Sommer, die Klasse traf sich jeden Nachmittag im Freibad. Die Ferien waren eben erst angebrochen. Auch für das Lyzeum. Da gab es Sabine. Sie holte ihn fast jeden Tag ab, aber er sagte ihr eine Woche lang jedesmal: „Heute nicht, Sabine. Vielleicht nächste Woche wieder." Das war seine Trauer. Den schwarzen Anzug legte er bald ab. Er war zu warm, und die Nähte krachten.
    Das Mädchen Sabine trug ein hellblaues Fähnchen und Schuhe mit Korkabsätzen. Manchmal, wenn sie sich trafen, brachte sie ihm eine Büchse Ölsardinen mit oder einen Karton Gebäck. Der Vater handelte damit. Sie lagen nebeneinander auf dem Gras des Rasens im Schwimmbad und versuchten sich vorzustellen, wie es sein würde, wenn sie Mann und Frau wären. Sie Kinderärztin und er Jurist. Das lag noch weit in der Ferne. Der eine dachte über den anderen nach, unter der heißen Glocke des Himmels, während des Lärms der Kinder, die das Planschbecken bevölkerten, und während die Musik aus dem Lautsprecher ertönte. Sie hatten beide sehr braune Haut und sahen gesund aus, und die anderen wußten längst, daß sie unzertrennlich waren.
    Aber das Leben hat seine Gesetze. Eines Tages sagte er zu Sabine: „Ich werde doch anfangen müssen zu arbeiten. Wir schaffen es nicht, wir sind fünf, und Mutter verdient nicht viel.

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