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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Wenn ich mir was suche, wird es gerade ausreichen."
    Das Mädchen war hellblond. Es hatte sehr dunkle, große Augen. Es fiel ein wenig auf in diesem Schwimmbad. Es hatte einen zierlichen Gang und die Angewohnheit, im Gehen das Haar zurückzuwerfen.
    Sie stellten Bindig in der Stadtbibliothek ein. Er verdiente nicht viel, aber Bücher waren ihm nicht fremd. Nach ein paar Wochen schon beriet er die Leute, und es gab welche, die sich nur von ihm bedienen ließen und die gingen, um ein andermal wiederzukommen, wenn er einmal zufällig nicht anwesend war.
    Als Sabines Vater das Auto kaufte, sah Bindig sie seltener. Sie vertröstete ihn auf später. Manchmal ging er nach der Arbeit an ihrer Wohnung vorbei in der Hoffnung, sie anzutreffen. Aber er traf sie nicht. Er begann, seine Zeit über Rilke zu verbringen. Manchmal auch über Hölderlin.
    Dann war er siebzehn. Er hatte Geld gespart und leistete sich mit Sabine einen Ausflug ins Bergland an der Weser. Sie trug ein buntes Kleid, das ihr der Schwager aus Paris geschickt hatte, und er hatte es fertigbekommen, einen neuen Anzug zusammenzusparen. Aber sie hatten Pech, denn die Gegend, die sie sich ausgesucht hatten, wimmelte von Fahrtengruppen der Hitlerjugend, und sie konnten keine hundert Schritt gehen, ohne daß ein paar von den Uniformierten ihnen entgegenkamen oder sie überholten und sich über die „Sonntagsknülche" lustig machten.
    Sie hatten beide ihre Mitgliedsbücher zu Hause, und bevor sie sich angefreundet hatten, waren sie beide ebenso wie diese Uniformierten sonntags in den Wäldern umhergelaufen, hatten Lagerfeuer abgebrannt und in Zelten übernachtet, und sie kannten beide noch die Strophe auswendig, die erklärte, daß jeder durch ihre Fäuste fallen würde, der sich ihnen entgegenstellte. Aber das lag weit zurück.
    Schließlich fanden sie weitab von der Weser einen einsamen Weg, an dessen Rand sie sich für eine Weile ausruhten.
    „Nächste Woche muß ich zur Musterung", sagte er.
    Sie machte: „Oh..." Das klang erschrocken. Dann griff sie nach einem Grashalm und zerknickte ihn nervös. „Wirst du mir bald ein Bild schicken, wenn du eingezogen bist?" fragte sie.
    Er schickte ihr das erste Bild aus dem Arbeitsdienstlager. Er war dort drei Monate, und sie schrieb ihm zwei Briefe. Er schrieb jede Woche. Dann kam die Kommission, und der Führer erklärte ihnen: „Meldet euch freiwillig zu einem Truppenteil. Euer Vorteil ist, daß ihr auch zu diesem Truppenteil kommt. Wartet ihr, bis man euch holt, müßt ihr dort hingehen, wohin man euch steckt."
    Und dann bot der von der Luftwaffe ihnen seelenruhig die besten Verpflegungssätze, den interessantesten Dienst und die besten Aufstiegsmöglichkeiten an. Er sagte, daß es eine einzige Truppe in der ganzen Wehrmacht gäbe, in der ein Mann beweisen könne, daß er wirklich ein Mann sei, das wären die Fallschirmjäger. Er sprach noch eine Weile darüber. Bindig hatte sich bereits entschieden, ehe noch die Offiziere von den anderen
    Truppengattungen erklärten, welche Vorteile sie zu bieten hatten.
    Er bekam Urlaub, aber nur vierzehn Tage, denn sie drückten ihm gleich im Lager den Einberufungsbefehl in die Hand. Dann lag er noch einmal neben Sabine im Gras, so wie sie oft nebeneinander gelegen hatten.
    „Es ist schade, daß ich gerade jetzt fort muß", sagte er, „es wäre sehr schön geworden. Ich verdiene ein bißchen mehr, und ich habe schon sehr viel Sehnsucht nach dir gehabt."
    „Es ist schade", sagte sie, „ja, schade."
    „Aber ich komme zurück", sagte er schnell, „ich komme sicher zurück. Wir schaffen das schon. Schließlich kann man sich nicht drücken, wenn ganz Deutschland kämpfen muß. Wenn ich zurückkomme, heiraten wir."
    Er sagte das so, als gäbe es nichts Selbstverständlicheres zu sagen. Es war sein Ernst und sein fester Entschluß. Er hatte das Mädchen gern, und er wußte mit Sicherheit, daß sie die Geduld aufbringen würde, auf ihn zu warten.
    Er sah, wie sie nickte, und dann saßen sie noch lange irgendwo in einem Cafe und hörten die Schlager aus dem Schallplattenkasten. Es war Sonnabend, aber es tanzte niemand. Es war verboten zu tanzen.
    Sie bildeten ihn gründlich aus. Sie zermürbten seine Muskeln in den ersten Wochen so, daß er sich ebenso wie die anderen Rekruten am Treppengeländer anklammern mußte, wenn er abends in der Kaserne zu seiner Stube hinaufstieg. Sie lehrten ihn das Schießen und das Autofahren, das Töten mit allen Waffen und mit jedem beliebigen

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