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Die Stunde der toten Augen

Die Stunde der toten Augen

Titel: Die Stunde der toten Augen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Thürk
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Gegenstand. Sie brachten ihm bei, wie man einen Schirm zusammenlegt und wie man eine Wunde verbindet, wie man sich abzustoßen hat, wenn man aus der Kabinentür springt, und wie man ein Feuer so anlegt, daß ein Dutzend Männer es nur in stundenlanger, mühsamer Arbeit löschen können. Bald war er völlig überzeugt davon, daß kein Soldat in der ganzen Welt so sorgfältig ausgebildet wurde wie sie und daß die Waffen, die sie führten, jeder anderen Waffe überlegen waren. Er hörte die politischen Vorträge über die Kriegsziele der Alliierten und über die geniale Strategie Adolf Hitlers. Bald begriff er, warum Rückzüge sein mußten, und er fühlte sich stark im Bewußtsein, daß es irgendwo in der Heimat, sicher verborgen, Waffen gab, die jetzt schon imstande waren, den Krieg binnen weniger Tage zu entscheiden. Er ging mit diesem Gefühl an manchem Sonntag aus der Kaserne, und er schrieb sehr zärtliche Briefe an Sabine. Sie schrieb ihm zurück, und sie schrieb jetzt ebenfalls jede Woche.
    Am Tag der Besichtigung, als die Rekrutenzeit zu Ende war, fühlte sich Bindig sehr wohl, denn sie hatten gut abgeschnitten, und nun war der strenge Dienstbetrieb zu Ende. Die Front winkte für sie wie eine Erlösung, denn die Alten erzählten, daß an der Front die Hauptbeschäftigung das Schlafen sei.
    Er wurde gegen Abend, als er sich zum Ausgehen fertigmachte, zu seinem Unteroffizier befohlen. Der fragte ihn nach seinem Heimatort, und als Bindig ihn nannte, nickte er und fragte weiter: „Haben Sie dort noch jemand?"
    „Jawohl", sagte Bindig.
    Der Unteroffizier erklärte ihm langsam: „Herr Major Brandt muß dringend in diese Stadt fahren. Er ist ebenfalls dort zu Hause. Wir haben keinen Fahrer zur Hand. Deshalb werden Sie den Herrn Major fahren. Melden Sie sich sofort bei ihm."
    Der Major wies ihn nur kurz an, er solle sich mit dem Auto vertraut machen und sich auf Abruf bereithalten. Bindig fuhr den Wagen ein paarmal im Kreis um den Kasernenhof. Er machte ihm keine Schwierigkeiten. Der Major fragte ihn, als sie die Kaserne verließen: „Wissen Sie, wohin wir fahren?"
    „Jawohl", antwortete Bindig.
    „Wissen Sie auch, warum wir dahin fahren?"
    „Nein, Herr Major."
    „Sie haben nicht Radio gehört. Gestern nacht hat die Stadt einen schweren Fliegerangriff erlitten. Ich hoffe, meine Familie lebt noch..."
    „Oh ...", entfuhr es Bindig. Sekundenlang fuhr er unsicher, denn er dachte an Sabine und ein klein wenig auch an die Mutter und die Geschwister.
    Der Major war Studienrat gewesen. Bindig hatte ihn nicht mehr als Lehrer kennengelernt, denn jetzt war er schon viele Jahre Soldat. Aber Bindig kannte die Gegend am Stadtrand, in der die Villa des Majors stand. Er erinnerte sich sogar an das Haus, und er fand es, ohne zu fragen. Es stand so, als habe sich in der Stadt nichts ereignet, und die Frau des Majors lud ihn ein, in das Haus zu kommen. Er bat sich die Erlaubnis aus, nach seinen Leuten sehen zu dürfen, und der Major überließ ihm den Wagen.
    An manchen Stellen der Stadt schwelten noch Brände. Die Menschen liefen verstört durch die Straßen. Es war am frühen Morgen, er mußte viele Umwege machen, denn ein Teil der Straßen war nicht befahrbar. Aber er kam doch ans Ziel. Er fuhr zuerst an der Wohnung der Eltern vorbei, weil die am nächsten lag. Als er in die Straße einbog, nahm er unwillkürlich den Fuß vom Gashebel und begann zu überlegen, wo das Haus gestanden hatte.
    Die Leute gaben ihm nur unwillig Auskunft. Aber dann erfuhr er, daß der Keller bereits freigelegt wäre und sie die Leichen noch in der Nacht beerdigt hätten. Der Zigarettenhändler an der Ecke, dessen Laden noch unzerstört war, nahm ihn bei der Schulter und zog ihn in seinen Laden. Dort goß er ihm ein Glas Kognak ein und sagte väterlich: „Laß sein, Junge, du mußt nicht so oft daran denken."
    Bindig ließ den Kognak stehen und raste mit dem Wagen weiter, an den schwelenden Trümmern und an den Gruppen der verwirrten Menschen vorbei, zu Sabine.
    Das Haus mit der Feinkosthandlung, das Sabines Eltern gehört hatte, war ausgebrannt. Seine Mauern standen noch, und an der rückwärtigen Seite stand eine Kette von Pionieren. Einer von ihnen oder auch mehrere mußten im Keller des Hauses sein, denn der Pionier, der dem größten Kellerfenster am nächsten stand, nahm durch die Lücke in der Mauer die Eimer entgegen, die man ihm von unten heraufreichte. Er gab sie weiter, und sie wanderten durch die Kette, bis sie der letzte Mann mit einem

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