Die Stunde der toten Augen
lassen sie nicht aus den Lazaretten weg. Es ist nicht gut, wenn die Menschen sehen, wie einer aus dem Krieg zurückkommen kann. Die Frau scheint ihn gut zu behandeln. Sie
scheint ein ruhiger Mensch zu sein, geduldig. Ob sie ein Verhältnis mit ihm hat? Ihr Mann ist gefallen, heißt es. Ob er ihn vertritt? Die Frau sieht gut aus. Gar nicht wie eine Bäuerin. Eher wie eine Lehrerin aus der Stadt. Nur daß sie gröbere Hände hat. Kein Wunder, daß die Soldaten ihr nachblicken, wenn sie sich im Dorf sehen läßt. Selten genug tut sie das. Sie hat ein kluges Gesicht. Und Augen von einer seltsam bräunlich-grünen Färbung.
Bindig hockte auf dem Ledersitz im Funkwagen und starrte durch die geöffnete Luke zu dem einsamen Gehöft hinüber. Er hielt eine Zigarette in der Hand, an der ein langer Aschestumpf hing. Er hatte die Kopfhörer angelegt, aber nicht das Funkgerät war eingeschaltet, sondern das Radio. Bindig hörte Musik. Es war ein Konzert vom Sender Breslau, die Musik klang blechern und verzerrt, aber Bindig lauschte ihr mit der Hingebung des Menschen, der die Musik liebt und sie entbehren muß. Die Bilder glitten vor seinen Augen vorbei, aber sie verwischten immer mehr, und dafür sah er immer deutlicher das Bild der Frau aus dem einsamen Gehöft. Ihre seltsam gefärbten Augen und ihren ruhigen Gang, ihr gerafftes Haar und immer von neuem ihre Augen. Er fuhr erst auf, als draußen an die Stahlplanken des
Wagens geschlagen wurde. Verstört zog er die Kopfhörer ab, und im gleichen Augenblick erschien Zados Gesicht vor der Luke. Zado warf einen Blick in den Wagen, nickte dann und brummte: „Dachte ich es mir doch ... in eine Ecke verkrochen und die Kopfhörer dran! Warst du den ganzen Tag hier?"
ja", sagte Bindig, „bis vor einer Stunde habe ich geschlafen, und dann bin ich hier eingestiegen."
„Geschlafen?" sagte Zado kopfschüttelnd. „Du wolltest doch nachkommen. Warum bist du nicht gekommen? Da war noch ein ganz annehmbares Mädchen ..."
Bindig verzog das Gesicht, während er das Radiogerät abstellte. Er legte die Kopfhörer auf den Kasten und richtete sich auf. Während er durch die Luke kletterte, sagte er langsam; „Ich habe ein wunderbares Konzert gehört. Manchmal braucht man eben gar kein Mädchen."
Zado grinste und schob sich die Mütze weit ins Genick. Dann sagte er augenzwinkernd: „Du und deine Konzerte. Laß das nicht den Chef hören oder Timm. Die erklären dich für einen gefährlichen Menschen, wenn du Konzerte hörst. Übrigens habe ich zwei Büchsen Rindsrouladen mitgebracht."
„Von der Division?"
„Von einer Daniel" sagte Zado. „Von einer Dame, die mit dem Schreiber befreundet ist. Was hältst du davon?"
Zado war wieder der alte. Es schien, als habe ihm der letzte Einsatz nichts angehabt. Als wäre es nur ein Spazierflug gewesen. Bindig betrachtete ihn nachdenklich. Er wußte, daß Zado niemals oder nur selten spüren ließ, was er dachte. Er ließ sich nichts anmerken, und es mochte auch sein, daß er härter war als die anderen. Manchmal ist er undurchsichtig, dachte Bindig. Manchmal weiß man nicht, woran man bei ihm ist.
„Die Rouladen werden wir essen ...", sagte er nebenhin, „aber wir müßten ein paar Kartoffeln dazu haben. Hast du eine Ahnung, ob irgendwo Kartoffeln herumliegen?"
Zado winkte gelangweilt ab. „Die Kartoffeln sind Nebensache. Aber ich möchte diese Rouladen wenigstens von einem vernünftigen Teller essen, nicht aus dem stinkenden Blechgeschirr."
Er wandte den Kopf und blickte zu dem einsamen Gehöft hinüber. Es lag still unter den aufgebauschten Wolken, die sich langsam zu einer grauen Decke zusammenschoben.
„Es sieht so aus, als ob die dort Feuer haben", sagte er. „Was hältst du davon, wenn wir bei ihnen essen? Kartoffeln werden sie auch haben."
„Es ist anzunehmen", sagte Bindig nachdenklich. „Aber ob sie es machen? Wo hast du die Rouladen?"
„Im Quartier", erklärte Zado. „Laß mich das nur machen."
Er ließ Bindig stehen und ging mit schnellen Schritten in das Dorf, um die Büchsen mit dem Fleisch zu holen. Bindig lehnte sich an die Panzerplatten und brannte sich eine Zigarette an. Als Zado schon ein Stück von ihm entfernt war, rief er ihm nach: „Sag dem Funker, daß er wieder zu seinem Wagen kommen soll!"
Zado war bereits zwischen den Häusern verschwunden, als auf der Straße, die in einiger Entfernung an dem einsamen Gehöft vorbeiführte, ein Fahrzeug auftauchte. Es war ein Volkswagen, der mit hoher Geschwindigkeit
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