Die Stunde der toten Augen
sagte der Oberfeldwebel, „den Standort der Kompanie kenne ich nicht."
Um diese Zeit war es an der Front still. Es konnte noch eine halbe Stunde dauern, bis die Granatwerfer der Russen mit ihrem Abendsegen begannen. Bis dahin gab es vorn nur vereinzeltes Gewehrfeuer, aber das war bis hierher nicht zu vernehmen.
„Zado!" rief Alf über die Straße.
Der Angerufene setzte behutsam die Konservendosen auf die Erde. Dann richtete er sich wieder auf und rief zurück: „Herr Leutnant?" Er hatte alles gehört, was zwischen Alf und dem Oberfeldwebel gesprochen worden war.
„Ich brauche den Melder!" rief Ali.
Zado kam mit ein paar schnellen Schritten über die Straße und baute sich so korrekt vor Alf auf, wie der es noch niemals erlebt hatte.
„Der Melder ist zur Division unterwegs, Herr Leutnant!" meldete Zado. „Wegen der Post..."
„In Ordnung." Alf nickte. „Dann einen anderen Mann, der die Feldgendarmerie zum Gefechtsstand der dritten Kompanie führen kann."
Zado reckte sich, und der Oberfeldwebel nahm das von der Seite her mit einem befriedigten Bück zur Kenntnis.
„Mache ich selbst, Herr Leutnant. Ich kenne die Stellung."
„Steigen Sie ein. Fahren Sie mit", sagte Alf. „Bindig sofort zu mir!"
Der Oberfeldwebel legte die Hand an die Mütze und bedankte sich. Alf winkte ab.
„Bitte Herrn Oberfeldwebel, meinen Stahlhelm holen zu dürfen!― bat Zado mit ernstem Gesicht.
„Genehmigt!"
Zado streifte Bindig mit einem Blick, während er kehrtmachte und über die Straße lief. Er kniff ein Auge dabei zu.
Als der Wagen abgefahren war, sagte Alf zu Bindig: „Was ist los, Bindig? Die Nerven?"
„Nein. Nicht die Nerven", sagte Bindig. „Ich bin Soldat, aber ich bin kein Dienstmädchen für diese Greifer."
Alf wiegte den Kopf. Er hatte an diesem Abend noch die Briefe an die Frauen der vier Gefallenen vom letzten Einsatz zu schreiben. „Bindig", sagte er leise, „Sie sind ein guter Soldat. Aber wenn Sie so weitermachen, werden Sie eines Tages an einer Buche am Straßenrand baumeln. Der Oberfeldwebel wird Meldung erstatten." Er sah ihn mit einem Blick an, der beinahe ärgerlich war. „Bindig, es ist unrühmlich, solche Gefechte zu überstehen, wie Sie sie überstanden haben, und danach an einer Buche zu baumeln." Bindig senkte den Kopf. Er sagte nichts. Er dachte: Es ist unrühmlich, aber es ist das, was uns bleibt. Es ist der Schlußpunkt hinter allem, was wir tun. Ein verdammt unrühmlicher Schlußpunkt.
„Legen Sie sich schlafen", riet ihm Alf, sich abwendend, „rennen Sie nicht hier herum wie ein Amokläufer. Hauen Sie ab. Ich werde mit dem Oberfeldwebel sprechen, wenn er zurückkommt."
Zado war erregt, aber er brachte es fertig, die beiden Feldgendarmen nichts davon merken zu lassen. Er täuschte sie so gut, daß die beiden ihn für das Muster eines Soldaten hielten.
Sie waren kaum zehn Minuten gefahren, als der Oberfeldwebel sich an ihn wandte und sich nach Bindig erkundigte. Zado sah angestrengt durch die Windschutzscheibe und antwortete nicht sofort auf die Frage. Die Dämmerung senkte sich über das Land, und der Wägen näherte sich den Artilleriestellungen. Ab und zu war ein Geschütz zu sehen, eine abgestellte Protze oder ein Stapel Granaten. Die Front war beängstigend ruhig an diesem Abend. Weiter links war ein dumpfes Murren zu hören, dort schoß die russische Artillerie bereits. Zado wußte, daß diese Ruhe nichts Gutes verhieß. Solange die Russen mit ihren Siebzehnzwo und den Granatwerfen Streufeuer schossen, war nichts zu befürchten. Immer aber, wenn es ein langes Schweigen gab, folgte ein Feuerüberfall, an dem sich außer den leichten Geschützen die Raketenwerfer beteiligten. Dann kochte die Erde, und es gab keine Hoffnung, lebend zu entrinnen, wenn man in den Feuerschlag hineingeriet. Zado drehte sich halb um und sprach den Oberfeldwebel an. Er sagte sachlich: „Ich empfehle, jetzt den Stahlhelm aufzusetzen, Herr Oberfeldwebel. Man fühlt sich viel sicherer damit, und es ist möglich, daß die Russen gegen Abend ein paar Koffer herüberschicken."
Der Oberfeldwebel folgte der Aufforderung sofort. Er schnallte den Riemen unter dem Kinn sehr fest, und Zado dachte bei sich, der Helm wird ihn spätestens in zehn Minuten so drücken, daß er Kopfschmerzen bekommt.
„Sie fragten nach Bindig", sagte er dann. Der Oberfeldwebel nickte eifrig. „Das ist ein schwieriger Fall, Herr Oberfeldwebel", sagte Zado nachdenklich. „Er geht allein, mit einer Handgranate und dem Messer,
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