Die Stunde der Wahrheit
eines großen Lords. Er ging mit Ehre und Mut und verdient es, betrauert zu werden. Doch in aller Ehrlichkeit, ich kann nichts anderes spüren als Erleichterung.«
Mara senkte die Augen; die Verzweiflung des Hadonra verschaffte ihr Unbehagen. Sie griff nach einer Troddel, die sich von einem der Kissen gelöst hatte, und erkannte nüchtern, daß auch sie keine wahre Trauer um Buntokapi empfand. Der Schock über die Erkenntnis, was sie durch ihr Verhalten wirklich aufs Spiel gesetzt hatte, erschütterte sie, warf sie aus dem Gleichgewicht und verwirrte sie. Doch wenn auch ihre Taten ihr Bewußtsein peinigten, sie verspürte nicht die Qualen des von ihrer Kultur geprägten Loyalitätskonflikts, wie sie der Mann vor ihr erlitt. Und sie fragte sich ganz nüchtern, ob das womöglich schlimme Auswirkungen auf ihr Seelenleben haben könnte.
Der Hadonra bewegte sich zitternd, und Mara erkannte, daß sie jetzt handeln mußte, auch wenn sie nur die gleichen beruhigenden Worte sprechen würde, an die sie selbst nicht so richtig glauben konnte. »Jican, alle wissen, daß Ihr großen Kummer unter dem Befehl meines verstorbenen Mannes erdulden mußtet. Er erkannte weder Eure Fähigkeiten an, noch hörte er auf die Weisheit Eures Rates. Ihr dientet Buntokapi in vollkommener Loyalität, solange er am Leben war. Jetzt ist er nicht mehr länger Euer Herr, und ich sage Euch, tragt das rote Band der Trauer um Euer Handgelenk. Handelt schicklich, denn die Tradition muß geehrt werden, doch vertraut Eurem Herzen. Wenn Ihr nicht trauern könnt, dann ehrt zumindest Buntokapis Andenken.«
Jican verneigte sich tief; seine nervöse Haltung ließ große Erleichterung erkennen. Er wußte, daß eine strengere Herrin ihn hätte auffordern können, sich das Leben zu nehmen. Doch im Laufe der Zeit hatte er begriffen, daß Mara mehr sah als die meisten Herrscher, wenn es darum ging, die kulturellen Bräuche auszulegen. Und selbst ihre verschworensten Feinde mußten die Kühnheit bewundern, mit der sie sich der Bedrohung durch die Anasati entledigt hatte.
Nachdem der Hadonra sie verlassen hatte, saß Mara noch viele Stunden allein da. Die Gefühle in ihrem Herzen waren weitaus schwieriger auseinanderzuhalten als die ihres Dieners. Sie sah zu, wie die Lampe niederbrannte, während sie vor sich hin grübelte und ab und zu sogar etwas einnickte. Träume kamen zu ihr, von Lanokota, ganz in Rot gekleidet, von ihrem Vater, der auf die Spitzen barbarischer Schwerter spuckte. Manchmal veränderte sich sein Körper, wurde zu dem von Buntokapi, und manchmal lag Lano im Staub, während Keyoke ihn für tot erklärte, tot mit allen Ehren. Ein anderes Mal wurde ihr Geist von dem Gejammer und Geschrei Ayakis gequält, das endlos weiterzugehen schien. Als die Dämmerung einsetzte, wurde sie wach. Sie schwitzte und fröstelte. Die Kerzen waren heruntergebrannt, und das Mondlicht schimmerte durch die Läden und malte silbergraue Muster auf die Fliesen. Mara lag still da und konzentrierte sich trotz des Aufruhrs ihrer Gefühle auf die eine Sache, die wirklich zählte. Es tat ihr leid um Buntokapi, doch sie bedauerte ihre Entscheidung nicht. Der Dienst im Tempel Lashimas mochte sie einst dazu auserwählt haben, sich dem Frieden und der Reinheit des Geistes zu widmen, die sie während ihrer Mädchenzeit gekannt hatte; doch jetzt, da sie die Macht geschmeckt und den Reiz des Spiels des Rates gekostet hatte, wußte sie, daß sie das niemals würde aufgeben können. Eine leichte Brise rauschte durch die Akasi-Büsche und mischte den sanften Duft von Blumen mit dem Geruch der Tinte und Pergamentrollen. Mara lehnte sich in den Kissen zurück; ihre Augen waren halb geschlossen. Jetzt, da sie allein war, zollte sie ihrem Ehemann die eine Anerkennung, hinter der sie wirklich stehen konnte: An diesem Nachmittag im Hain hatte er für einen Moment wahre Größe gezeigt. Sein eigener Vater hatte diese Fähigkeit vergeudet, und sie hatte sich aus eigenen, egoistischen Zielen an seine Fehler gehalten. Das war nun nicht mehr zu ändern. Doch die Zukunft breitete sich wie ein leeres Stück Pergament vor ihr aus. Mara konnte dafür sorgen, daß Ayaki anders aufwuchs, daß der Mut und die Stärke seines Vaters bei ihm niemals in Dickköpfigkeit münden würden. Sie hatte einmal geschworen, alles aus Ayaki wegzuerziehen, was von Bunto stammte, und das zu fördern, was von den Acoma war. Jetzt wußte sie, daß Ayaki etwas von Buntokapi geschenkt bekommen hatte, das zu wertvoll war, um es
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