Die Stunde des Jägers - EXOCET
Liebe und Barmherzigkeit beraubten. Tanja nahm seitlich für sich allein Platz, von der Atmosphäre bewegt. Noch nie in ihrem Leben hatte sie einem solchen Gottesdienst beigewohnt. Cussanes Gesicht konnte sie kaum sehen. Er war lediglich die Hauptfigur dort am Altar im schwachen Licht, und sie fand ihn in seinen Gewändern ebenso faszinierend wie die ganze Zeremonie.
Die Messe ging weiter. Fast alle Andächtigen traten vor ans Geländer, um Christi Leib und Blut zu empfangen. Sie beobachtete, wie er von einem zum ändern trat, den Kopf neigte und die rituelle Formel murmelte, und auf einmal wurde sie von einer seltsamen Unruhe erfüllt. Ihr war, als sähe sie diesen Mann nicht zum ersten Mal, etwas an seiner Körpersprache kam ihr bekannt vor.
Als die Messe vorbei, die Absolution erteilt worden war, blieb er auf den Altarstufen stehen und sprach zur Gemeinde: »Und ich möchte jeden einzelnen bitten, in den nächsten Tagen den Heiligen Vater, der zu einer schwierigen Zeit bald England besuchen wird, in seine Gebete aufzunehmen.« Er trat einen Schritt vor, Kerzenlicht fiel auf sein Gesicht. »Bittet darum, daß seine Gebete ihm im Verein mit euren die Kraft verleihen, seinen Auftrag zu erfüllen.«
Sein Blick schweifte über die ganze Gemeinde, und für einen
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Moment hatte Tanja das Gefühl, als sähe er sie direkt an. Dann ging er weiter. Tanja blieb vor Entsetzen wie erstarrt, hatte den ärgsten Schock ihres Lebens erlitten. Als er die Benediktion sprach, war es ihr, als bewegte er stumm die Lippen. Dieses Gesicht – das Gesicht, das sie seit ihrer Kindheit in ihren Träumen verfolgt hatte. Gewiß, es sah älter aus, gütiger gar, doch es war zweifellos das Gesicht von Michail Kelly, dem man den Namen Cuchulain gegeben hatte.
Was sich nun ereignete, war sonderbar, doch angesichts der Umstände vielleicht doch nicht zu merkwürdig. Der Schock war so heftig, daß er ihr alle Kräfte zu nehmen schien. Sie blieb hinten in der Kirche im Halbdunkel sitzen, während die Gemeinde hinausging und Cussane mit seinen Ministranten in der Sakristei verschwand. Es war nun sehr still in der Kirche, und sie saß da und versuchte sich einen Reim zu machen. Cuchulain war also Pater Harry Cussane, Devlins Freund, und damit war so vieles erklärt. Gott, dachte sie, was soll ich nur tun? Da ging die Tür zur Sakristei auf, und Cussane trat heraus.
In der Küche war die Mahlzeit fast fertig. Devlin schaute in den Backofen, pfiff leise vor sich hin und rief: »Haben Sie schon den Tisch gedeckt?«
Keine Antwort. Er ging ins Wohnzimmer. Kein Tisch gedeckt, keine Spur von Tanja. Dann fiel ihm auf, daß die Terrassentür nicht ganz geschlossen war, legte die Schürze ab und lief los.
»Tanja?« rief er in den Garten und sah in diesem Augenblick, daß die Tür in der Mauer offenstand.
Cussane trug einen schwarzen Anzug und einen weißen Stehkragen. Er verharrte kurz, war sich ihrer Gegenwart bewußt, ließ sich aber nichts anmerken. Während der Messe hatte er sie fast sofort bemerkt. Sie fiel schon auf, weil sie eine Fremde in diesem Gotteshaus war, und unter den gegebenen Umständen hatte auf der Hand gelegen, wer sie sein mußte. Mit dieser Erkenntnis war wie ein Gespenst das Kind in diesem
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Gesicht aufgetaucht, die Kleine, die sich wehrte, als er sie vor all den Jahren in Drumore in den Arm genommen hatte. Augen veränderten sich nicht, und ihren Blick hatte er nie vergessen.
Am Geländer vor dem Altar drehte er sich um und machte eine Kniebeuge. Tanja, die nun in Panik geraten war und entsetzliche Angst hatte, zwang sich zum Aufstehen und lief durch den Mittelgang. Die Tür eines Beichtstuhls stand ein wenig offen, und sie schlüpfte hinein. Als sie sie zuzog, knarrte es leise. Tanja hörte ihn durch den Mittelgang kommen, seine Schritte bedächtig, auf den Steinplatten deutlich zu hören. Sie kamen näher, verstummten.
Leise sagte er auf russisch: »Ich weiß, wo Sie sind, Tanja Woroninowa. Sie können jetzt herauskommen.«
Da stand sie, zitterte, fror. Er war recht ruhig, sein Gesicht ernst. Er sprach russisch weiter: »Es ist lange her.«
»Und Sie töten mich jetzt, wie Sie meinen Vater getötet haben? Und so viele andere?«
»Das ist hoffentlich nicht notwendig.« Er stand mit den Händen in den Jackentaschen da, Schaute sie an, lächelte dann sanft und irgendwie traurig. »Ich habe Sie auf Schallplatten gehört. Sie haben ein erstaunliches Talent.«
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