Die Stunde des Schakals (German Edition)
Rede zu stellen, ja, sie überhaupt zu finden, erwies sich als ziemlich schwierig. Schon vor dem Haus hörte Clemencia ausgelassenes Gelächter, und als sie das Gittertor passiert hatte, drängte sich im kleinen Vorhof der halbe Gospelchor der Holy Redeemer Parish. Offensichtlich hatte sich der Chor nach einem Auftritt hier versammelt, denn die Frauen trugen noch ihre bodenlangen weinroten Roben mit den goldenen Verzierungen. Die wenigen Männer in ihren farblich abgestimmten Hemden saßen etwas abseits auf der Bank an der Hüttenwand. Die Frauen diskutierten gerade, ob eine Braut das alleinige Recht habe, die Ausstattung ihrer Brautjungfern zu bestimmen, insbesondere wenn letztere die Kosten dafür selbst tragen mussten. Als man Clemencia endlich bemerkte, verstummte das Gespräch allmählich.
«Hallo, Kindchen», grüßte eine der älteren Frauen, deren Name Clemencia gerade nicht einfiel. Vielleicht, weil Miki Selma sie immer nur «die Krähe» nannte. Zumindest bis letzte Woche hatten die beiden erbittert über die Stimmführerschaft im Chor gestritten. Die Krähe könne überhaupt nicht singen, hatte Miki Selma behauptet. Man dürfe sie schon deswegen nie ins Haus einlassen, weil sogar das Obst verfaulen würde, sobald sie nur den Mund aufmache.
«Du bist schon zurück, Clemencia?», fragte eine andere der Frauen.
Es war 21 Uhr 30! Durfte man da noch nicht von der Arbeit kommen?
«Wo ist Selma?», fragte Clemencia. Die Krähe deutete nach hinten, in den dunklen Durchgang zwischen Haus und Nebenhütten. Clemencia ging unter der Plane durch, die tagsüber Schatten spendete. In der windgeschützten Feuerstelle nahe der zweiten Tür glimmte die Glut. Daneben stand der große gusseiserne Potjie. Bis auf ein paar verklebte Mieliepap-Reste war er leer. Die Tür links stand offen.
Im Zimmer lief der Fernseher, doch keiner sah hin. Auf einem der Betten thronte Miki Selma in ihrem Chorgewand, umgeben vom Rest der Familie und der zweiten Hälfte der weiblichen Chormitglieder. Miki Selma hielt einen Bleistift in der Hand und kritzelte auf den Rand eines Werbeprospekts. Sie sagte: «Wenn wir sechs Brautjungfern haben, brauchen wir natürlich auch sechs Männer.»
«Was ist hier eigentlich los?», fragte Clemencia von der Türschwelle aus.
«Gar nichts.» Miki Selma faltete den Werbeprospekt sorgfältig zusammen. Es schien sich um die Sonderangebote von Woermann Brock zu handeln.
«Ich gehe dann mal», sagte Melvin und versuchte, sich an Clemencia vorbeizudrücken.
«Saufen?», fragte sie. Es war sowieso ein Wunder, dass er noch da war.
«Arbeiten», sagte Melvin.
«Um diese Zeit?»
«Das kann man sich heutzutage nicht aussuchen.»
«Was für eine Arbeit?», fragte Clemencia.
Ihr Bruder musterte den Türrahmen. Er überlegte, er grinste, er sagte: «Entladen.»
«Melvin, ich habe dich nicht aus der Zelle geholt, damit du sofort wieder …» Clemencia brach ab. Ungefähr ein Dutzend Frauen des Gospelchors der Holy Redeemer Parish blickten sie erwartungsvoll an. Clemencia holte ihre Geldbörse aus der Tasche, nahm einen Zwanziger heraus und drückte ihn Melvin in die Hand. Sie sagte: «Geh saufen und mach keinen Quatsch!»
Melvin zog ab. Der Frauenchor schwieg einstimmig, bis Miki Selma sagte, dass sie noch eine Kleinigkeit zu besprechen hätten. Ob Clemencia sich vielleicht irgendwo die Beine vertreten könnte?
«Du hast bei dem Reporter angerufen und behauptet, es geschehe in meinem Auftrag?», fragte Clemencia scharf.
«In deinem Auftrag? Kein Wort dergleichen habe ich gesagt», entrüstete sich Miki Selma.
«Es ist wegen Clemencia, hast du gesagt», schaltete sich eine der anderen ein.
«Es war ja auch wegen Clemencia. Irgendwer muss sich doch um sie kümmern.»
«Um mich muss sich niemand kümmern, und du schon gleich gar nicht!», zischte Clemencia.
Miki Selma erhob sich zu ihrer ganzen Größe von einem Meter sechsundfünfzig, verschränkte die Arme vor der Brust und sagte: «Jedes Tier schreit in seiner Höhle, und das hier ist immer noch meine! Ein bisschen mehr Respekt, Kindchen!»
Die Meute der Chorfrauen murmelte beifällig, und Clemencia atmete ein paarmal tief durch. Miki Selma war ihre Tante. Eine der jüngeren Schwestern ihres Vaters. Sie gehörte zur Familie. Sie war ein Mensch und deswegen prinzipiell vernunftbegabt. Man konnte versuchen zu argumentieren. Völlig ruhig und gelassen sagte Clemencia: «Du kannst doch nicht bei einem wildfremden Mann anrufen und ihn nach seiner
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