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Die Stunde des Spielers

Die Stunde des Spielers

Titel: Die Stunde des Spielers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Vaughn
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pflichten mir bei, dass dies eine gewöhnliche Kiste ist?« Er führte sie an die Truhe, damit sie sie aus der Nähe inspizieren konnte.
    »Na ja, gewöhnlich würde ich nicht sagen. Dafür ist sie viel zu schön.«
    »Aber Sie stimmen mir zu, dass man sich in keiner Weise daran zu schaffen gemacht hat?«
    »Sie sieht normal aus.«
    Grant öffnete die Vorderseite der Truhe, und das schwarze, nichtssagende Innere kam zum Vorschein. »Mary, würde es Ihnen etwas ausmachen, hineinzugehen? Ich kann Ihnen versichern, dass es völlig ungefährlich ist.«
    Kichernd kam Mary der Bitte nach.
    Er stellte sich in Position und drehte die Kiste. Ohne laute Musik und prunkvolle Lichteffekte konnte ich hören, wie ihre Räder über den Holzboden der Bühne kratzten. Dann hielt er die Truhe an, rückte sie zurecht und machte die Tür auf. Das Innere war leer.
    Wie viele seiner Zauberkunststücke war auch dieses bekannt. Ich rechnete damit, dass die Kiste leer wäre. Dennoch wirkte ihr Anblick unheimlich. Grant trat in die Truhe, um zu beweisen, dass sich tatsächlich nichts darin befand, dass es sich nicht um einen Trick mit Spiegeln handelte. Seltsamerweise steigerte das meine Unruhe nur noch mehr. Unwillkürlich wollte ich wissen, wo ist sie? Wohin ist sie verschwunden?
    Grant trat an den Bühnenrand. »Wo ist Marys Ehemann? Sir möchten Sie, dass ich Ihre Gattin zurückhole?«
    Leises Gelächter - nervöses Gelächter - wogte durch das Publikum. Ich konnte den Mann nicht sehen, aber vermut-lich nickte er bejahend. Grant lächelte. »Eines Tages wird ein Ehemann einmal Nein sagen. Was soll ich dann bloß machen?«
    Erneut drehte er die Kiste, öffnete die Tür, und da stand Mary, mit großen Augen und ein wenig atemlos.
    Grant fragte: »Madam, geht es Ihnen gut?«
    »Ja, ich glaube schon.«
    »Und wie ist es gewesen?«
    »Es - es ist sehr dunkel gewesen da drin.« Sie blickte über die Schulter in das Innere der Kiste. War da ein Hauch von Angst in ihren Augen?
    Das, mehr als alles sonst, trug zum Erfolg der Illusion bei. Jeder Zauberer konnte jemanden in einer Truhe verschwinden lassen. Doch ich hatte noch nie gesehen, wie die verschwundene Person anschließend beklommen das Requisit musterte. Was war geschehen?
    Grant schickte sie ins Publikum zurück, das ihn mit Applaus überhäufte. Er nahm ihn anmutig entgegen, mit einem schmalen Lächeln und einer kurzen Verbeugung. Dann ging er von der Bühne ab, und der Vorhang fiel.
    Ich saß noch lange in dem Theater und starrte den geschlossenen Vorhang an, während ich mich fragte, was ich da eben mit angesehen hatte. Eine Illusionsshow, ja. Aber das war nicht alles. Das war einfach unmöglich.
    Mir blieb nur eines übrig: Ich schlich mich hinter die Bühne.

Fünf
    Ich war schon mit Backstagepässen auf genug Konzerten gewesen, um ein paar Kniffe zu kennen. Erstens: Tu so, als würdest du dorthin gehören. Wenn man zielsicher geht und sich nicht anmerken lässt, dass man nicht den leisesten Schimmer hat, wohin zum Teufel man unterwegs ist, werden einen die meisten Bühnenarbeiter nicht aufhalten. Das müsste dann schon ein Rausschmeißer oder Stagemanager sein. Zweitens: Die meisten Theater haben den gleichen simplen Grundriss. Der Zuschauerraum, die Bühne, die Bühnenmaschinerie, die Theaterkasse, und irgendwo hinten befinden sich Garderoben und Lagerräume. Folge deinem Instinkt, steck die Nase in genug Zimmer, letztlich findest du etwas von Interesse. Die Schwierigkeit besteht gewöhnlich darin, überhaupt erst eine unverschlossene, erreichbare Tür zu finden, die hinter die Kulissen führt.
    Ein Notausgang im Foyerbereich zwischen dem Theater und dem Casino sah vielversprechend aus. Ich überprüfte, ob er alarmgesichert war, hoffte auf das Beste und machte die Tür auf. Dahinter befand sich ein Betonkorridor, zweckmäßig und hässlich, mit unverkleideten Verfehlungen und Entlüftungsrohren. Direkt gegenüber befand sich eine weitere als Notausgang gekennzeichnete Tür, über die man wahrscheinlich ins Freie kam. Zu meiner Rechten führte der Korridor jedoch zurück in Richtung des Theaters. Bingo.
    Es war dämmrig, nur ein paar unauffällige Arbeitsleuchten brannten. Kisten, Stühle, Beleuchtungskörper und Mikrofonständer säumten die Wände; man hatte sie hier verstaut, damit sie nicht im Weg standen. Ich folgte meiner Nase und lauschte auf menschliche Geräusche wie Bewegung, Stimmen. Doch ich konnte nichts hören. Es roch modrig und ein wenig schal - dreißig Jahre voller

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