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Die Stunde des Spielers

Die Stunde des Spielers

Titel: Die Stunde des Spielers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carrie Vaughn
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alle waren »echt« und ließen ihr Publikum raten, wie sie ansonsten derart unmögliche Illusionen zustande brächten.
    Stattdessen pries Grant sich als »klassisch« an. Sogar retro. Kein purpurner, paillettenbesetzter Hosenanzug für ihn. Kein Rock-Soundtrack, kein Feuerwerk, kein Verschwindenlassen einer Boeing 747, keine übertriebenen Hightech-Stunts. Auf dem Poster zu seiner Show, das in der Lobby des Diablo hing, befand sich das Foto eines Mannes Ende dreißig, der einen eleganten Smoking trug. Er hielt ein zu einem Fächer ausgebreitetes Kartenspiel in den Händen. Sein Gesicht war zu einer ernsten Miene verzogen, als sei er dabei, die Welt zu retten, anstatt einen Kartentrick vorzuführen. Er hätte genauso gut einem alten Varieteplakat entstiegen sein können.
    Mein Interesse war geweckt. Ich würde mir die Show ansehen und anschließend versuchen, mich mit ihm zu
    unterhalten.
    Sogar das Theater war retro: Reihen roter Plüschsitze vor einer Proszeniumsbühne, mit dicken roten Vorhängen zu beiden Seiten. Blau-gold gestrichene Art-Déco- Zierleisten und -Lampen schmückten die Seitenwände. Die Wirkung war warm und verlockend; ich hatte das Gefühl, in eine andere Welt gezogen zu werden, und war bereit, mir alles mit großen staunenden Augen anzusehen.
    Ich glaubte nicht, dass ich sagen können würde, ob Odysseus Grants Magie echt war oder nicht. Mir war vage klar, wie manche der Tricks funktionierten: Fingerfertigkeit, Spiegel, verborgene Taschen, falsche Daumen. Doch ich war nicht besessen davon und hatte mich nicht damit auseinandergesetzt. Gewöhnlich war ich völlig willens, meine Skepsis auszuschalten und mich den Illusionen hinzugeben. Diesmal hatte ich vor, Grant zu beobachten, ihn zu studieren, um zu sehen, ob mir etwas auffiel. Ich wollte sicherstellen, dass ich genau dort hinsah, wo ich nicht hinsehen sollte, um die Karten zu entdecken, die er in der Hand verschwinden ließ. Wenn mir das allerdings nicht gelang, war ich so schlau wie vorher: Bloß weil es nach Magie aussah, musste es noch lange keine sein.
    Ein Werwolf zu sein, verschaffte mir einige Vorteile: Ich konnte besser riechen und hören, war schneller und stärker. Ich konnte mit geschlossenen Augen in eine überfüllte Bar spazieren und sagen, ob ein Freund von mir anwesend war. Doch ich konnte nicht zwischen echter Magie und einem Trick unterscheiden. Ich hatte keinerlei mediale oder telepathische Fähigkeiten, war keine Hellseherin. Ich konnte keine Auren oder Ley-Linien deuten. Ich war lediglich ein großes furchteinflößendes Monster. Tja, eher ein Monster, das im Körper einer Durchschnitts-blondine gefangen war.
    Doch bei Grants Show war alles anders: Ich merkte es. Sobald er die Bühne betrat, passierte etwas. Eine elektrische Ladung erhellte die Luft, ein erwartungsvolles Knistern. Es ging nicht nur mir so - ein paar Leute um mich herum rutschten an die Kanten ihrer Sitze, lehnten sich vor, die Augen weit aufgerissen, weil sie keine Sekunde verpassen wollten. Die Magie war in der Luft zu spüren. Andererseits handelte es sich vielleicht sogar dabei um eine Illusion: Man erzeuge eine Atmosphäre, in der die Zuschauer das Gefühl hatten, sie befänden sich jenseits von Raum und Zeit, man gebe ihnen das Gefühl, was sich vor ihnen abspielte, sei übersinnlich, und natürlich würden sie glauben, dass es sich um Magie handelte. Sie würden es all ihren Freunden erzählen, und Odysseus Grant hätte bei jeder einzelnen Show ein volles Haus.
    Allein schon der perfekt maßgeschneiderte Smoking und der Zylinder verliehen Grant Autorität. Er war gut angezogen, also musste er selbstverständlich ein Zauberer sein. Es war alles Illusion. Das musste ich mir immer wieder ins Gedächtnis rufen. Er bewegte sich auf die Mitte der Bühne zu. Dabei sagte er nichts, sondern gab seinem Publikum mit Hilfe einer hochgezogenen Augenbraue zu verstehen: »Sehen Sie? Hier, nichts in meinem Ärmel, ja?« Er musste nichts sagen, denn jeder, der schon einmal eine Zaubershow gesehen hatte, oder auch nur Onkel Bob auf der Feier zum achten Geburtstag, hatte all diese Fragen längst einmal gehört. Grant bediente sich unseres Vorwis-sens, als würde er sagen: »Sparen wir uns das Gerede und kommen wir direkt zu den Illusionen.«
    Er hatte drei Silberreifen in der Hand, jeder dreißig Zentimeter im Durchmesser. Wieder handelte es sich um einen vertrauten Trick. Die Ringe waren massiv. Er schlug sie gegeneinander, so dass sie klirrten, demonstrierte es uns.

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