Die Stunde des Spielers
ungefähr dem vierten und fünften Stockwerk bog ich um die Ecke und wollte mich auf den Boden fallen lassen, um wieder zu Atem zu kommen. Vielleicht einen Analyseversuch zu unternehmen, was sich in der letzten halben Stunde zugetragen hatte. Doch eine Bewegung erregte meine Aufmerksamkeit, jemand, der unter mir über den Treppenabsatz schoss. Die Tür, die in das Stockwerk führte, ging auf, und die Gestalt blickte zu mir zurück, mit vor Eile angespannten Gesichtszügen. Der Mann war groß, sonnengebräunt und trug einen Anzug.
Es war Evan. Und ich glaubte, eine Waffe in seiner anderen Hand zu erkennen.
Ich nahm das Ganze nur verschwommen wahr, dann war er auch schon auf den Gang verschwunden, und die Tür schloss sich hinter ihm. Doch meine Nerven waren zum Zerreißen gespannt, und ich rannte zu der Tür, öffnete sie und sah hinaus - er war nicht dort. Oder er war ausgezeichnet darin, sich zu verstecken. Erst Sylvia, jetzt Evan. Was war hier los?
Verspätet schlüpfte ich zurück ins Treppenhaus und presste mich gegen die Wand, für den Fall, dass doch noch Kugeln fliegen würden. Ich schnappte beinahe nach Luft: mein Herz raste, und mir war schwindelig von dem Alarm und dem Alkohol. Ich hörte nichts. Ich roch einen Hauch Aftershave und einen wollenen Anzug, der vielleicht Evan gehörte. Oder jemand anderem. Meine Einbildungskraft beschwor den Geruch von Waffenöl herauf. Ich konnte mich auf nichts verlassen.
Vorsichtig nahm ich wieder meinen Weg hinunter in die Lobby auf. Ich setzte behutsam einen Fuß vor den anderen und horchte auf Schritte, auf das Geräusch einer Waffe, die entsichert wurde, und atmete tief ein um abzuwarten, ob ich etwas witterte. Ich kam nur sehr langsam voran.
Als ich die Lobby erreichte, war der Alarm verstummt, doch meine Nerven hatten sich noch immer nicht beruhigt. Überall kamen und gingen Leute, die ziellos in dem Chaos herumirrten. Ein Kerl in Feuerwehrmannjacke und -helm ging vorüber, offensichtlich hatte er es nicht eilig. Kein echter Notfall, doch die Leute waren trotzdem durcheinander. Sie glichen einer Herde nervöser Schafe. Da rief eine Stimme: »Kitty!«
Brenda stand vor mir in der Lobby und winkte mich zu sich. Ich hätte es niemals gedacht, aber ich war froh, sie zu sehen. Als ich sie erreichte, zog sie mich zur nächsten Wand. Immer wieder ließ sie den Blick durch die Lobby schweifen, als rechne sie damit, dass jeden Moment Dämonen aus den Wänden sprängen.
»Was ist los?«, fragte ich. »Habt ihr Ben gefunden? Ich dachte, ich hätte Evan oben gesehen ...«
»Ja, sicher, er hat den Feueralarm ausgelöst.«
»Wow! Ich glaube, ich sollte mich bei ihm bedanken.«
»Zweifellos«, schnaubte sie. »Hast du gewusst, dass es sich bei der Tiershow in Wirklichkeit um eine Horde Lykanthropen handelt?«
Ich sagte sarkastisch: »Ja, klar. Da bin ich vielleicht schon selbst drauf gekommen.«
»Und du hast dich dort oben mitten unter ihnen herumgetrieben?«, fragte sie ungläubig. »Was hast du dir bloß dabei gedacht? Diese Typen sind unangenehme Zeitgenossen.«
»Das habe ich auch schon gehört, aber niemand verrät mir, inwiefern. Was habt ihr herausgefunden?«
»Alle gehen ihnen aus dem Weg. Sogar unsere Leute. Und das will was heißen. Was hast du denn nun da oben getrieben?« Sie hatte eine Hand auf der Hüfte und sah vorwurfsvoll aus.
Ich habe es vermieden, mich verführen zu lassen, dachte ich, schüttelte aber nur den Kopf. Ich konnte nachvollziehen, warum Balthasar und seine Bande mich nervös machten. Doch anscheinend machten sie jeden nervös. »Ich dachte, sie wüssten vielleicht etwas darüber, was mit Ben passiert ist.«
»Und?« Auf mein Kopfschütteln hin sagte sie: »Uns ist es nicht viel besser ergangen. Es heißt, Faber halte sich
versteckt, nachdem sein Betrügerring beim Olympus Pokerturnier aufgeflogen ist. Mir ist nichts darüber zu Ohren gekommen, dass er Ben entführt haben soll. Er verhält sich wirklich ruhig.«
»Wie seid ihr hier gelandet?«
»Wir sind dir gefolgt. Boris und Sylvia sind auf der Jagd.«
»Was? Ich habe Sylvia im Napoli gesehen ...«
»Sie haben ein wachsames Auge auf dich. Also haben wir ein wachsames Auge auf sie.«
»Sind sie hier?« Panisch blickte ich mich um.
»Nein, leider nicht.«
Leider? Im Moment hielt ich das für einen echten Segen.
Ich spürte eine Bewegung, Schritte, die sich uns näherten. Evan. Nachdem er aus dem Aufzug getreten war, ließ er den Blick durch die Lobby schweifen, bemerkte uns und
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