Die Sünde der Brüder
wusste Hal es ebenfalls. Sein Bruder war mit Sicherheit gerade dabei, sich auszurechnen, was das bedeuten konnte - und er gelangte zweifellos zu derselben Schlussfolgerung. Die Vorstellung allerdings, dass Grey vor dem Kriegsgericht lügen würde - er bezweifelte, dass Hal diese Möglichkeit bedenken würde.
Er hatte keine Ahnung, wie viel Hal von seinen Neigungen wusste oder darüber argwöhnte; sie hatten noch nie darüber gesprochen und würden es nie tun. Doch wenn er die Absicht kundtat, vor dem Kriegsgericht einen Meineid zu schwören, um Percy das Leben zu retten - würde Hal wahrscheinlich alles tun, um ihn aufzuhalten, und dabei auch vor dem Gebrauch einer Schusswaffe nicht Halt machen. Zwar nicht tödlich, dachte er mit einem ironischen Lächeln, aber doch so, dass er es rechtfertigen konnte, ihn irgendwo in der Obhut eines Arztes wegzusperren.
Das würde das Problem jedoch nicht lösen; Percy würde nur weiter im Gefängnis vor sich hindämmern, bis sich Grey genug erholt hatte, um auszusagen. Nein, dachte er, wahrscheinlich würde Hal ihn eher bewusstlos schlagen, ihn in einen Sack stecken und ihn auf ein Handelsschiff nach China schmuggeln, um ihn dann für vermisst zu erklären, und…
Er stellte fest, dass er bei dieser Vorstellung hemmungslos lachen musste, bis ihm die Tränen kamen.
»Himmel, Hal, ich wünschte, du würdest es tun«, sagte er laut und dachte ganz plötzlich an Aberdeen. Erst jetzt begriff er, wie sehr ihn sein Bruder liebte.
»Himmel, Hal«, flüsterte er.
Er rieb sich mit dem Ärmel über das Gesicht, holte tief Luft und roch Blumenduft in der warmen Luft. Als er zu Boden blickte, sah er ein Häufchen verwelkter Blumen, die heruntergefallen waren. Sein Ellbogen hatte sie beiseitegeschoben, als er das Heiligenhäuschen gestreift hatte. Er sammelte sie vorsichtig wieder ein und legte sie auf den kleinen Vorsprung an der Vorderseite.
Es war zu dunkel, um die Inschrift auf der Plakette im Inneren des kleinen Schreins zu sehen, doch er glaubte, unter seinen tastenden Fingern eine römische »II« zu spüren. Es musste eine der Kreuzwegstationen sein, von denen ihm von Namtzen erzählt hatte. Die Leute wanderten auf einer Art Pilgerweg von einem dieser Heiligenhäuschen zum nächsten und meditierten dabei über die Ereignisse im Leben Christi bis hin zu seiner Kreuzigung.
Natürlich lag es auch in Percys Macht, Grey zu drohen, dessen war sich Grey sehr wohl bewusst, obwohl Percy so viel Taktgefühl besessen hatte, es nicht zu erwähnen. Mit dem Galgen konfrontiert, war es möglich, dass Percy beschloss, seine Beziehung mit Grey zu enthüllen. Grey glaubte zwar nicht, dass sich eine solche Anschuldigung beweisen ließ; niemand hatte sie je in einer kompromittierenden Situation gesehen - aber unter den gegebenen Umständen würde die bloße Anklage schon ausreichen.
Dies war natürlich nichts, was er mit Hal besprechen konnte.
Er war kein religiöser Mensch, doch er war genügend mit der Heiligen Schrift vertraut, um die Geschichte von Gethsemane zu kennen. Lass diesen Kelch an mir vorübergehen .
Er spähte über die Felder hinweg zu dem Ort namens Hückelsmay
und sah die brennenden Wachfeuer - die Stationen seines eigenen Weges zum Kalvarienberg, dachte er grimmig. Er hätte zu gerne gewusst, was Christus in seiner Lage getan hätte.
Er war mit mehreren anderen britischen Offizieren auf einem der großen Bauernhöfe in der Nähe der Landwehr einquartiert, der Hückelsmay genannt wurde. Trotz der unterdrückten Spannung herrschte im Haus eine gastfreundliche Atmosphäre, und der Duft nach Bratkartoffeln und Schweinebraten lag in der Luft.
Grey zwang sich, ein wenig zu essen, vor allem um Toms willen, und ließ sich dann in einer Ecke nieder, wo er mit niemandem reden musste.
Er saß neben einem Fenster, dessen Läden schon für die Nacht geschlossen waren, doch er spürte dennoch einen Luftzug und hörte hin und wieder schlafende Schweine grunzen, wahrscheinlich aufgestört vom Geruch ihres gebratenen Bruders. Die Bauernhöfe in dieser Gegend waren von großen Wassergräben umgeben, die nicht nur die Verteidigung des Hauses erleichterten, sondern gleichzeitig einen hervorragenden Pfuhl für die Schweine abgaben, die selig im Schlamm der Gräben versanken und schnell zur Hand waren, wenn man sie brauchte.
Eigentlich sollte er wohl besser nach oben gehen und schlafen - doch er hatte das Gefühl, dass ihm das Einschlafen heute nicht leichtfallen würde. Da war es wohl
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