Die Sünde des Abbé Mouret
Vorhangs behutsam zu heben.
Sergius schien zu schlafen am Rande des großen Bettes, einen Arm
hatte er unter den Kopf geschoben. Während seiner Krankheit waren
ihm Haare und Bart gewachsen. Er war sehr bleich, die Augen waren
blau umzeichnet, die Lippen blaß, er hatte etwas von der Anmut
eines genesenden Mädchens.
Gerührt wollte Albine den Vorhang wieder fallen lassen. »Ich
schlafe nicht,« sagte Sergius mit ganz leiser Stimme. Er richtete
den Kopf nicht auf und bewegte keinen Finger, wie von angenehmer
Müdigkeit gelähmt. Seine Augen hatten sich langsam geöffnet; leise
ging der Atem seines Mundes über eine ihrer bloßen Hände und ließ
den Flaum ihrer hellen Haut erbeben.
»Ich hörte dich,« flüsterte er weiter, »du gingst ganz leise.«
Sie war entzückt über diese Anrede, kam näher und kauerte sich vor
das Bett, um ihr Gesicht in gleiche Höhe mit dem seinen zu
bringen.
»Wie fühlst du dich?« fragte sie.
Und nun kostete sie ihrerseits die Süße,
dieses Du, das ihr zum erstenmal über die Lippen kam.
»Oh, jetzt bist du geheilt,« fing sie wieder an. »Weißt du, ich
weinte den ganzen Weg entlang, wenn ich mit schlechten Nachrichten
zurückkam, von da unten. Man sagte mir, du habest das Delirium, und
verschonte dich das böse Fieber, würde es dir den Verstand rauben.
Wie hab' ich deinen Onkel Pascal geküßt, als er dich
hierherbrachte, damit du ganz gesund würdest!«
Mütterlich ordnete sie das Bettzeug.
»Siehst du, die verbrannten Felsen dort unten waren nichts für
dich, du brauchst Bäume, Kühle und Ruhe … Der Doktor hat
niemand verraten, daß er dich hier versteckte. Es ist ein
Geheimnis, von dem nur er und deine Freunde wissen. Er hielt dich
für verloren … glaub mir, hier haben wir keine Störung zu
befürchten. Onkel Jeanbernat raucht seine Pfeife vor den
Salatbeeten. Die anderen erkundigen sich heimlich nach dir. Sogar
der Doktor wird nicht mehr herkommen, weil ich jetzt dein einziger
Arzt bin… es scheint, daß du Medizin nicht mehr benötigst, du
brauchst Liebe, verstehst du?«
Er schien nicht zu verstehen, der Schädel war ihm wie
leergebrannt. Da seine Augen, ohne daß er den Kopf bewegt hätte,
von einer Ecke des Zimmers in die andere wanderten, dachte sie, er
suche herauszufinden, wo er sich befände.
»Dies ist mein Zimmer,« sagte sie. »Ich habe es dir überlassen,
es ist hübsch, nicht wahr? Ich habe mir die schönsten Möbel, die
auf dem Speicher standen, herausgesucht; dann hab' ich mir die
Kattunvorhänge genäht, um vom Tageslicht nicht geblendet zu
werden … Und du störst mich gar
nicht. Ich werde im zweiten Stock schlafen. Da stehen noch drei,
vier Zimmer leer.«
Aber er schien nicht beruhigt. »Bist du allein?« fragte er.
»Ja, warum fragst du mich das?«
Er antwortete nicht auf die Frage, sondern murmelte mit einem
gequälten Ausdruck: »Ich habe geträumt, ich träume immer… Glocken
höre ich, und das macht mich so müde.« Nach kurzem Schweigen fing
er wieder an: »Geh und mach die Türe zu, schiebe die Riegel vor,
ich will, daß nur du da bist, du ganz allein.«
Als sie zurückkam und sich einen Stuhl heranschob, um sich an
sein Bett zu setzen, freute er sich kindlich und wiederholte:
»Jetzt kann niemand herein. Und ich werde die Glocken nicht mehr
hören … Wenn du sprichst, wird es ruhiger.«
»Willst du etwas trinken?« fragte sie. Er habe keinen Durst,
bedeutete er. Mit erstauntem Ausdruck betrachtete er Albines Hände,
so daß sie lächelnd eine Hand auf den Rand des Kissens legte. Da
ließ er seinen Kopf bis zu der kleinen Hand gleiten und schmiegte
eine Wange an sie. Ein leises Lachen kam ihn an, er sagte: »Ah, sie
ist seidenweich. Als ob sie mir Luft in die Haare bliese, ist es…
Bitte, nimm sie nicht fort.« Dann entstand ein langes Schweigen.
Sie sahen einander in die Augen, von tiefer Freundschaft beseelt.
Albine spiegelte sich friedlich im leeren Blick des Genesenden.
Sergius schien ein Unbestimmtes zu belauschen, das die kühle,
kleine Hand ihm anvertraute.
»Deine Hand ist sehr lieb,« begann er wieder. »Du kannst dir gar
nicht denken, wie sie mir guttut … Es ist, als ob sie
vordränge, bis in mein Innerstes, um mir die Schmerzen zu nehmen, die meine Glieder quälen.
Wie Liebkosung streift es mich, Erleichterung und Heilung.«
Leise rieb er seine Wange gegen die Hand, belebte sich, wie
neuem Leben geschenkt.
»Nicht wahr, du wirst mir nichts Schlechtes zu trinken geben,
mich nicht quälen mit allerhand
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