Die Sünde
Haiders Text, den er per E-Mail an Pfaff übersandt hatte, wiedergegeben. Ausführlich wurde von der Verhaftung Pfaffs und Haiders berichtet. Die Festnahmen der Journalisten wurden als Beweis für die Hilflosigkeit und Unfähigkeit der Polizei und Staatsanwaltschaft dargestellt. Der Artikel schlug in der Medienwelt wie eine Bombe ein. Kaum eine halbe Stunde nach Erscheinen der Zeitung gingen die Neuigkeiten um die ganze Welt. Eine Welle des Entsetzens schwappte zurück. Plötzlich ging es nicht mehr nur um einen Mörder und dessen armseliges Opfer, das verstümmelt und dem Tode nahe war, sondern um Papst Clemens XII ., der wahrscheinlich einen Mann schützte und ihn sogar als Privatsekretär erkoren hatte, obwohl dieser als Priester junge Ministranten missbraucht hatte. Innerhalb weniger Stunden wurden in den meisten Nachrichtenportalen die wildesten Spekulationen veröffentlicht. Warum hatte der Papst, als er noch Bischof gewesen war, die Hand über Johannes Holzmann gehalten und warum hatte er ihn zu seinem Privatsekretär gemacht? Etwa weil Holzmann schon immer ein Schönling war, dessen Charme und gutes Aussehen die Presse oft mit dem des homosexuellen Hollywood-Schauspielers Rock Hudson verglich, der bekanntlich an Aids starb? War die schreckliche Vergangenheit Holzmanns etwa das Pfand, das der Papst gegen seinen Privatsekretär in der Hand hielt, und der Grund für dessen unerschütterliche Treue zu dem Oberhaupt der katholischen Kirche? Wie weit gingen die Forderungen und Wünsche des Pontifex? Musste ihm Holzmann in allen Lebensbereichen zu Diensten sein?
Bereits in den Mittagsnachrichten griff der islamische Sender Al Arabia das Thema auf und stellte Papst Clemens XII . als einen der Todsünde verfallenen Führer einer Religion dar, die nunmehr in der Welt keine Existenzberechtigung mehr haben dürfe und mit anderen sündigen Sekten auf einer Stufe stehe.
Während die gesamte christliche Welt aus den Fugen zu geraten schien, hüllte sich der Vatikan in eisernes Schweigen. Gleichwohl liefen hinter den Kulissen die Drähte heiß. Es war, als hätte jemand in einen Bienenkorb gestochen. Die Kurienkardinäle in ihren purpurnen Gewändern rannten hektisch von einem Besprechungszimmer zum anderen. In noch nie dagewesener Eile wurden Möglichkeiten ausgelotet, wie man der Situation Herr werden könnte. Doch statt konkrete Lösungen auszuarbeiten, kehrte sich alles ins Gegenteil um. Der schon zu allen Zeiten im Untergrund schwelende Neid und die durch jahrelange Grabenkämpfe abgrundtiefen Aversionen zwischen den Kardinälen brachen wie ein eitriges Geschwür auf. Man schrie sich gegenseitig an und beleidigte einander. Der schwergewichtige italienische Kardinal Paolo Ricenti versetzte während einer hitzigen Debatte seinem polnischen Kollegen gar einen derart heftigen Faustschlag ins Gesicht, dass dieser minutenlang bewusstlos war.
Abends berichteten im Fernsehen mehrere Journalisten aus gut unterrichteten Kreisen, welchen gewaltigen Schaden die »Bombe« im Vatikan angerichtet hatte. Sie hatte offenbar keinen Stein mehr auf dem anderen gelassen und bei dem nunmehr fast 82-jährigen Pontifex einen Zusammenbruch hervorgerufen. Im Bett liegend, kaum noch des Sprechens mächtig, sei er zu keiner Entscheidung mehr fähig. Sein Privatsekretär, der ihm Jahrzehnte zur Seite gestanden hatte, sei spurlos verschwunden. Schon wurden Vermutungen angestellt, wer in die Fußstapfen des Papstes treten könnte. Meinungen und Stimmen einzelner Mitglieder der Kurie wurden zitiert und gegeneinander abgewogen.
Der unvermeidbare Gärungsprozess, der sich wie immer in Gang setzte, wenn der Stuhl Petri vakant war, hatte schlagartig begonnen. Doch dieses Mal viel heftiger und schneller als sonst. Statt in den Stunden der höchsten Not zusammenzuhalten, schienen sich die hohen Würdenträger zu zerfleischen. Über die Nachrichtensender wurden gezielt Gerüchte gestreut, die den einen oder anderen potenziellen Nachfolger des Pontifex in Misskredit bringen sollten. Von einer Sekunde zur anderen zerfiel der Vatikan in verschiedene Interessengruppen, die sich bis aufs Messer bekämpften. Die Vertreter der Pius- und Petrusbrüder, der Neokatechumen, der Legionäre Christi und natürlich das weltweite Netzwerk des Opus Dei, sie alle hatten ihren Fehdehandschuh in den Ring geworfen, denn es ging um Macht und mit der Macht um Geld, viel Geld. Unermessliche, von der Kirche im Laufe der Jahrhunderte an sich gerissene Schätze, Immobilien und
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