Die Sünde
gleich zur Rechtsmedizin bringen. Bin gespannt, ob es von demselben armen Schwein stammt, von dem der Finger war.«
Yalcin sah Sabine Bauer voller Zweifel an. »Ich halte Barbara Westhof nach wie vor für absolut integer«, antwortete Bauer auf Yalcins skeptischen Blick hin. »Sie hat mir versprochen, dass sie keiner Menschenseele etwas erzählt.«
»Bitte ruft mich sofort an, wenn es Neuigkeiten gibt. Und wenn ihr mich aus dem Bett holen müsst«, sagte Nawrod ernst. »Wir wollen in dieser Sache nichts verschlafen.«
Yalcin schmunzelte. »Dito. Ich muss schließlich als offizielle Sachbearbeiterin den Kopf hinhalten, wenn etwas schiefgeht.«
10
Sankt-Damians-Kirche Heidelberg
12. März 1992
»Bleib mal bitte noch hier«, flüstert der Pfarrer nach der Messe ihm im Vorbeigehen ins Ohr.
»Ja, Hochwürden«, antwortet er leise und in seiner lieblichen Kindesstimme schwingt Erwartung.
Der Pfarrer klatscht in die Hände. »Ihr wart wieder sehr artig, meine Buben. Der liebe Gott wird es euch danken«, sagt er laut. »Aber jetzt beeilt euch! Ihr wollt eure Eltern doch nicht warten lassen.«
Die Ministranten schlüpfen hastig aus ihren Talaren und Chorhemden. Sie hängen sie fein säuberlich, der Größe nach geordnet, in den schweren Holzschrank und unterhalten sich dabei leise miteinander.
»Behüte Sie Gott, Herr Pfarrer«, sagen die Buben beim Abschied.
»Gott sei mit dir, mein Sohn«, antwortet der Pfarrer jedem Einzelnen.
Dann ist es in der Sakristei still, sehr still. Der Pfarrer zieht Kasel, Stola und Albe aus. Plötzlich steht er hinter ihm. Er fasst ihn mit beiden Händen an den Schultern und drückt ihn an sich.
»Siehst du dort oben den Heiland am Kreuz?«
Er sieht, wie die Hand über seinen Kopf nach oben zu dem Kruzifix zeigt. Dann schaut er nach unten, sieht einen grauen Socken und darüber ein haariges Bein.
»Jesus war ein Auserwählter Gottes, weißt du das?«
»Ja.«
»Du bist auch ein Auserwählter. Du bist mein bester Ministrant und wurdest mir von Gott gesandt. Ich habe noch viel vor mit dir.«
Er versteht das nicht. Er ist doch der Kleinste und Schwächste unter den Ministranten. Doch es ist schön, wenn der Pfarrer das sagt.
Der Pfarrer streicht ihm über den Kopf. Die Hand fasst ihn vorne an der Stirn und drückt seinen Kopf gegen den weichen Bauch. Er kann sich nicht dagegen wehren. Er ist doch erst neun Jahre alt. Er hält die Luft an, gleichzeitig hört er den Pfarrer laut atmen. Er spürt am Hinterkopf, wie sich der Bauch des Pfarrers hin und her bewegt. Und er spürt noch etwas. Weiter unten. Am Rücken.
»Du darfst dich jetzt nicht umdrehen«, sagt der Pfarrer und lässt ihn los. »Dreh dich ja nicht um, sonst kommt der Satan zu dir!«
Es wiederholt sich. Immer und immer wieder. Er will doch nicht, dass der Satan zu ihm kommt. Die Schmerzen sind manchmal so stark, dass er nicht mehr richtig gehen kann. Und es tut weh, wenn er … wenn er sein großes Geschäft machen muss. Wenn er es unterdrückt, tut es später noch mehr weh. Aber es muss doch raus aus seinem Bauch.
Er wird vom Pfarrer auch in ein fremdes Pfarrhaus gebracht, zu einem anderen Pfarrer und dann zu noch einem. Die Namen der beiden Pfarrer kennt er nicht. Manchmal ist ein anderer Bub dabei. Auch der hat Angst vor dem Satan und all seinen Werken.
Benjamin, der dritte Bub, war nur zweimal dabei. Dann ist er vor den Zug gelaufen. Das würde er nie machen, denn bestimmt wäre dann seine Mama sehr traurig. Mama darf das alles nicht wissen, sonst kommt zu ihr der Satan und nimmt sie mit in die Hölle. Er muss es für sich behalten, ganz allein für sich. Es drückt aber von oben, von rechts, von links, von überall auf ihn ein, und dann bekommt er kaum noch Luft. Nachts kann er oft nicht schlafen. Hat schon ein paar Mal ins Bett gemacht. Mama hat nichts gesagt. Sie war nur ein bisschen traurig.
11
Ecce veritas et lux hatte auf dem dritten Zettel gestanden, der unter der kleinen Plastiktüte lag, in der sich ein menschliches Auge befand. Es war braun, und die schwarze Pupille war weit geöffnet. Das Weiße des Auges war mit feinen Blutadern durchzogen. Es sah überraschend lebendig aus, so, als ob es die Welt um sich herum noch sehen würde.
Für Sabine Bauer war es ein Leichtes gewesen, die Worte zu übersetzen: » Siehe, die Wahrheit und das Licht. «
Doch das brachte die inzwischen ins Leben gerufene Sonderkommission »Päckchen«, bestehend aus Yalcin, Nawrod, Schneider und Wohlers, keinen Schritt
Weitere Kostenlose Bücher