Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
halfen, die Rettung vieler Familien zu organisieren, die sich im Visier der Gestapo befanden. Wer in unseren Kellern Zuflucht fand, musste weiter im Verborgenen leben, auch wenn das Château genügend Platz geboten hätte. Unser Anwesen war in einem Tal gelegen und von beiden Seiten einsehbar, weshalb Papa dieses Wagnis nicht eingehen wollte. Bei einer plötzlichen Hausdurchsuchung durften keine Spuren gefunden werden. Und so machte er sich daran, die Weinkeller in provisorische Wohnräume umzuwandeln. Ihm war bewusst, dass er damit den finanziellen Ruin riskierte, denn der Weinanbau müsste während dieser Zeit ruhen, gab es doch keine Möglichkeit mehr, die Ernte einzulagern. Er legte Vorräte an – Decken, Bücher, Paraffinlampen – , die er über Freunde in Valence beschaffte, um in Clochamps keinen Verdacht zu erregen. Die Sachen wurden nachts angeliefert, von Leuten, die als vertrauenswürdig galten. So entstand ein Refugium für all jene, die sonst keinen Ort hatten, an den sie sich hätten flüchten können. Bei uns waren sie sicher, bis eine Gelegenheit gefunden war, sie außer Landes zu bringen – meist nach Norden und dann über die Schweizer Grenze, wo sie keine Verfolgung zu fürchten hatten. Für mich als Kind war das alles ungeheuer aufregend, dieser stete Strom von fremden Menschen, die bei uns ein- und ausgingen, irgendwann nachts kamen und bei Nacht auch wieder verschwanden. Ich war viel zu jung, um ihr Leid, ihre Not und ihre Verzweiflung zu bemerken. Bis zu diesem Zeitpunkt war ich sehr behütet aufgewachsen. Ich hatte keine Geschwister und war zu Hause unterrichtet worden. Doch ich wusste schon früh, dass Geheimnisse gewahrt werden mussten, wenn die Umstände es erforderten.
Trotz all dieser Aktivitäten fand mein Vater weiterhin Zeit für mich. Es war ihm wichtig, mir die Welt zu erklären. Er wollte mich Moral lehren und mir die Gewissheit geben, dass ich in seinem Leben immer an erster Stelle stand.
Im Mai1944 , nur wenige Monate vor der Befreiung, durchsuchte die Gestapo in einer nächtlichen Aktion unsere Kellerräume und stieß dabei auf vierzehn jüdische Familien, darunter meine besten Freundinnen Sara und Marianne. Ich sollte die beiden nie wiedersehen. Später erfuhr ich, dass sie samt aller Familienangehörigen umgekommen waren. Einige waren bei dem Versuch, aus dem Lager in Drancy zu flüchten, erschossen, die anderen in Auschwitz vergast worden.
Die Gestapo besetzte unser Haus und ließ meinen Vater verhaften. Ich wurde zu Tante Cécile in die Stadt geschickt. Meinen Vater sollte ich ganze sechs Monate nicht wiedersehen, aber ich betete jeden Abend darum, dass er sicher und wohlbehalten zurückkehren möge. Es beschämt mich ein wenig, mich an die meisten Ereignisse aus dieser Zeit nicht erinnern zu können und die Geschichte vor allem aus den Erzählungen jener zu kennen, die alt genug waren, die Zusammenhänge zu begreifen.
Am ersten Weihnachten nach der Befreiung waren wir wieder auf Château d’Aigse vereint, auch wenn es kaum noch das herrschaftliche Anwesen von einst war. Das Schloss war völlig ausgeplündert. Es gab keine Teppiche mehr, keine Möbel, keine Bilder, kein Bettzeug. Die alten Bodendielen hatte man herausgerissen und als Feuerholz verheizt. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich meinen Vater weinen. Was immer sie ihm im Gefängnis angetan haben mochten, mein Vater war zurückgekehrt als gebrochener Mann. Zu diesem Zeitpunkt war er gerade einmal achtundvierzig Jahre alt.
Viele Jahre später schlug ich ihm vor, eine Schreibmaschine anzuschaffen, um unser Ablagesystem auf den neuesten Stand zu bringen. Wir füllten noch immer mühselig die alten Wirtschaftsbücher per Hand aus, und die Maschine hätte unsere Buchführung gewiss erleichtert. Papa weigerte sich entschieden, und erst da erzählte er mir, dass man ihn während der Haft gezwungen hatte, Deportationsbefehle zu tippen. Nie hatte er jemandem davon erzählt; all seine Heldentaten konnten die Scham nicht wettmachen, die er deswegen empfand. Es mag sehr löblich und ehrenvoll sein, geliebte Menschen nicht mit dem Grauen zu belasten, das einem widerfahren ist. Aber welchen Schaden muss die Seele nehmen, wenn man allen Schmerz und allen Schrecken in sich verschließt?
Nie werde ich vergessen, wie mein Vater mich in den Armen gehalten hat, wie geborgen ich mich trotz allem fühlte, als wir inmitten der geplünderten Bibliothek standen. Papa war ein leidenschaftlicher Büchersammler, und ich erinnere
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