Die Suendenburg
was Baldur nicht wissen konnte: In meiner Heimat bedeutet die Überreichung einer schwarzen Feder den Auftrag, jemanden zu töten.
Er gab mir drei Federn.
Während die eine Hand das schwarze Geschenk entgegennahm, kämpfte die andere damit, zuzustoßen. Letztlich siegte mein Überlebenswillen. Baldurs Tod wäre auch der meine, Flucht wäre aussichtslos gewesen. Im eisigen Winter durch ein feindliches Land zu irren, ohne den Weg zu kennen und mit nur einem Tag Vorsprung, das ist kein von den Göttern begünstigtes Unterfangen. Doch was hatte es mit den Federn auf sich? Nur ein Zufall? Oder wollten die Götter mir durch den ahnungslosen Baldur ein Zeichen senden? Töte drei Menschen, und du wirst frei sein? Die Gräfin und den Graf, die mir ans Leben wollen? Die stumme Alte, die mich und mein Volk hasst? Elicia, die gut zu mir ist, mich aber als ihre einzige Freundin und künftige Amme ihres Kindes am liebsten nicht mehr gehen lassen würde? Baldur, den ich im einen Moment umbringen und dem ich im nächsten vergeben möchte? Oder jemand anderen, an den ich noch überhaupt nicht gedacht habe? Bedeuten die Federn vielleicht nur, dass drei Menschen sterben werden, bevor ich frei sein kann? Missdeute ich die Zeichen der Götter? Haben die Götter ihre Hand überhaupt im Spiel? Sind das vielleicht alles nur Fantasien? Werde ich verrückt, so wie die anderen, wie die Gräfin, die man seit Wochen weinen und schreien hört, verrückt wie Baldur, der liebende Schänder, wie Elicia, die sich in Ängsten und Feindschaften verrennt?
Ich gehöre nicht auf diese Burg, aber ich bin ein Teil von ihr geworden. Ich kann und will den Wahnsinn nicht mehr von der Vernunft und das Falsche nicht mehr vom Richtigen trennen.
Zweiter Teil
April bis Juni des Jahres 913
Elicia
Ungefähr drei Monate sind vergangen, seit ich das letzte Mal schrieb. Das war noch vor Malvins Abschied. Der Frost hatte die Burg fest im Griff, und um mich wurde es immer einsamer. Obwohl ich inmitten meiner angestammten Heimat lebte, fühlte ich mich wie in der Verbannung.
Bilhildis wurde auf Aistulfs Geheiß kurz nach Weihnachten zusammen mit Raimund fortgeschickt, und zwar zu Verwandten von ihm, die angeblich der Hilfe bedurften. Das hat Aistulf natürlich nur getan, um mir einen weiteren Schlag zu versetzen. Es genügte ihm nicht, dass Baldur wie ein Tagelöhner in der Scheune wohnte und ich wie eine geduldete Matrone abgesondert von allem meine Tage der Mutterwerdung in der Kemenate fristete, nein, er musste mir auch noch die Frau nehmen, die als eine der Letzten zu mir hielt. Dann zog er im Januar die drei F ab, nachdem meine Mutter ihr Kind bekam – ein Beinahe-Zehnmonatskind. Der Junge war ziemlich klein und schwach und sah eher wie eine Frühgeburt aus als wie ein Kind über der Zeit. Die Geburt muss, nach allem, was ich hörte, ziemlich hart gewesen sein und zwei Tage gedauert haben. Ich zündete vor der Madonna in der Kapelle eine Kerze an und ließ, als alles überstanden war, durch Ferhild einen ehrlich gemeinten Glückwunsch überbringen. Das Ergebnis war, dass Ferhild sogleich als Amme dabehalten wurde und Frida und Franka am nächsten Tag zu Pflegerinnen meiner erschöpften Mutter bestellt wurden. Sie seien dafür am besten geeignet, lautete Aistulfs Begründung. Ich erhob um der Gesundheit meiner Mutter willen keine Einwände und bin seither ohne Bedienstete. Den von Aistulf angebotenen Ersatz lehnte ich ab, da die übrigen Mägde der Burg meist ungewaschene Geschöpfe sind, die weder vom Haarflechten noch von der Kleiderpflege eine Ahnung haben und mehr beschädigen als fertigkriegen würden. Die wären imstande, mir die Haarnadel vom einen Ohr zum anderen zu stechen anstatt in die Haare. Zudem würden sie Zuträgerinnen für Aistulf sein.
Er ist überall. Ich weiß, dass mir niemand glaubt, aber er hat es noch immer auf mich abgesehen. Allerdings hat er seine Methode geändert. Er versucht nun nicht mehr, mich umzubringen, sondern hat einen anderen, womöglich viel wirksameren Weg gefunden.
Aus meinem Gemach verschwinden seit einiger Zeit Gegenstände. Am einen Tag waren sie noch da, am anderen sind sie weg, so wie vor einem halben Jahr der Dolch, mit dem Vater getötet worden war. Nachts können die Gegenstände nicht gestohlen worden sein, weil ich die Tür von innen verriegelte, aber am Tage ging ich manchmal aus – in die Küche, auf die Burgmauer, zu Baldur und den Gäulen in die Scheune –, dann konnte jeder bei mir eindringen. Den
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