Die Sünder - Tales of Sin and Madness (German Edition)
schließlich seit zehn Jahren nicht mehr gesehen.
Er nahm einen tiefen, von Schleim durchtränkten Atemzug und pochte gegen die Tür.
Vielleicht ist er ja pleite. Braucht Geld. Ja, das wird’s wohl sein. Hat keine Freunde, also wen ruft er an? Seinen guten alten Dad.
Die Tür öffnete sich und Hartford lächelte ihn an.
»Dad! Schön, dich zu sehen.«
Frank nickte. Er hätte beinahe ein »Lieber Gott!« ausgestoßen, aber er unterdrückte den Impuls. Sein Sohn sah furchtbar aus. Dunkle Augenringe, blasse Haut und ein ausgemergeltes Gesicht. Er war kaum wiederzuerkennen.
»Komm rein, Dad.«
Frank trat ins Innere des dunklen Hauses. Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss. »Du könntest hier drin mal ein bisschen Licht machen, Hartford. Und ein bisschen frische Luft reinlassen.«
Franks Sinne waren zwar nicht mehr unbedingt in Bestform, aber selbst seine verkrustete alte Nase war noch in der Lage, unter der dünnen Schicht aus Reinigungsmittel mit Kiefernduft einen anderen, seltsamen Geruch wahrzunehmen.
Mein Gott, er hat sich wirklich gehen lassen, dachte Frank.
»Also ich war ganz schön überrascht, als du mich angerufen hast. Ich hab mir gerade das Spiel angeschaut. Im ersten Moment hab ich gar nicht gewusst, wer da dran ist.«
»Ja, ist ’ne Weile her, was, Dad?«
»Bitte, nenn mich Frank.« Er hustete.
»Bist du krank? Ich finde nämlich, dass du wirklich gut aussiehst, Dad. Entschuldige … Frank.«
»Ach, du weißt schon. Nur die kleinen Vorzüge des Älterwerdens. Du siehst aber auch gut aus. Immer viel zu tun, was?«
Scheiße, ist das unangenehm, dachte Frank. Er wäre viel lieber wieder zu Hause gewesen, hätte sich betrunken und in die Glotze gestarrt. Er wusste ja noch nicht einmal, warum Hartford ihn überhaupt hatte sehen wollen. Um an alte Zeiten anzuknüpfen? Um zu versuchen, gerissene Familienbande wieder zu flicken?
»Ja. Ich bin ziemlich beschäftigt, das stimmt. Aber mein Leben besteht nicht nur aus Arbeit. Erst gestern Abend waren Dave und Rochelle auf ein paar Drinks hier.«
»Dave und Rochelle? Meinst du deinen Cousin Dave und seine Frau?«
Hartford nickte.
Was zur Hölle? dachte Frank. Er wusste, dass Hartford im letzten Monat seinen Job in der Schneiderei verloren hatte. Anscheinend hatten Dave und Rochelle ihn gefeuert, weil er immer zu spät gekommen war und nicht hart genug gearbeitet hatte. Nun, zumindest hatte Charlene ihm das erzählt. Es war das letzte Mal gewesen, dass er mit ihr gesprochen hatte, bevor sie gestorben war.
Warum will er denn mit denen einen trinken?, wunderte sich Frank, aber dann fiel ihm auf, dass es ihm egal war. Es gab dringendere Angelegenheiten, um die er sich kümmern musste.
»Äh, ich will ja nicht unhöflich sein, Hartford. Aber warum hast du mich angerufen? Warum wolltest du mich nach all den Jahren sehen?«
Hartford grinste. Es erinnerte Frank an ein Skelett.
»Ich bin froh, dass du fragst. Es gibt da etwas, das ich dir zeigen möchte.«
Hartford führte Frank tiefer in das düstere Haus hinein und auf eine Doppeltür zu. Davor blieb er stehen. Er drehte sich um und blickte Frank an. Auf seinem Gesicht lag plötzlich ein harter, distanzierter Ausdruck – eine wirklich erstaunliche Veränderung im Vergleich zu dem kränklichen Skelett, das ihm noch vor wenigen Augenblicken gegenübergestanden hatte. »Erinnerst du dich noch, wie ich mir ein Schlagzeug gewünscht habe und du es nicht erlaubt hast?«
Frank nickte.
»Dass ich geweint und geweint habe? Mum hätte es mir erlaubt, sie hat gesagt, dass ich eins haben darf. Aber du warst dagegen und hast Nein gesagt.«
»Du warst erst zehn«, erwiderte Frank und hustete. »Das war vor 20 Jahren. Wieso fängst du jetzt wieder davon an?«
Hartford lächelte, drehte sich wieder um und stieß die Tür auf. »Weil ich jetzt eins habe, Daddy.«
Frank trat in den Raum. Die Wände des Zimmers waren mit Bildern bedeckt, die in rotes, gelbes und blaues Licht getaucht waren – lauter Fotografien, alle von ein und derselben Frau in unterschiedlichen Phasen ihres Lebens. Franks Verstand begriff nicht sofort, aber als er es tat, hatte er das Gefühl, jemand habe ihm in den Magen getreten. Jede einzelne Aufnahme zeigte Charlene.
»Mein Gott«, murmelte Frank, wandte seinen Blick vom Schrein für Hartfords Mutter ab und konzentrierte sich auf das Ausstellungsstück in der Mitte des Raumes. Von hinten wurden die grotesken Umrisse von grellem Licht angestrahlt. »Mein Gott«, stieß er erneut aus, aber
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