Die Täuschung
Maschinensysteme waren voll automatisiert, sodass keinerlei Notwendigkeit für die Anwesenheit von Menschen bestand; die Insel hätte wochen- oder sogar monatelang menschenleer bleiben können. In stilistischer Hinsicht spiegelte das Innere der Anlage den markanten Kontrast an Bord des Schiffes wider: funktionaler Minimalismus in den Labors und Kontrollräumen, einladende Antiquitäten in den Wohn- und Aufenthaltsbereichen. In einer Kirchenattrappe war das Projektionsgerät für die Ozonwaffe untergebracht, mit der sich offenbar auch die Bedingungen auf der Insel zeitweilig ändern ließen, wenn das Klima des Nordatlantiks gar zu rau wurde.
Während Larissa und Colonel Slayton dafür sorgten, dass Malcolm seine Kur aus Ruhe, Selbstbehandlung und Selbstmedikation antrat (er hatte eine verständliche Abneigung gegen Ärzte), brachten mich die anderen zu einem Raum, von dem aus man einen wahrhaft eindrucksvollen Blick auf eine unheimliche Bucht und das Meer hatte. In den nächsten zwei Wochen, in denen Malcolm ganz für sich allein wieder zu Kräften kam und dann in einem Labor zu arbeiten begann, das er als sein Allerheiligstes betrachtete und dessen Benutzung ausschließlich ihm selbst vorbehalten war, verbrachte ich meine Zeit mit dem Rest des Teams, erforschte die Inseln, erfuhr mehr über die von der Gruppe entwickelten Technologien und dachte über die Auswirkungen unserer jüngsten Eskapaden nach. Es war eine kraftspendende Zeit, und mir wurde irgendwann bewusst, dass ich nicht redete und handelte wie Dr. Gideon Wolfe aus Manhattan, Professor an der John Jay University und geachtetes Mitglied der amerikanischen Gesellschaft, sondern eher wie jemand, der gleich den anderen seine mit der Geburt erworbene Staatsbürgerschaft abgelegt und sich in einen Vaterlandslosen verwandelt hatte. Mit meinem Sprung aus dem Gefängnis von Belle Isle an Bord von Malcolms Schiff war ich ein Vogelfreier geworden – im besten Sinne des Wortes, sagte ich mir, aber solche Unterscheidungen würden nicht viel bedeuten, wenn ich den Weg der Staatsmacht kreuzte. Und so tauchte ich kopfüber ein in meine neue Rolle; tagsüber erörterte ich potenzielle neue Falschmeldungen und beschäftigte mich mit neuen Waffen und Technologien, nachts ließ ich mich immer leidenschaftlicher von Larissa bezaubern.
Heute kommt mir das wie ein Traum vor; ein Traum, zu dem ich mit Freuden zurückkehren würde, wenn ich nur den Horror vergessen könnte, der mich aus ihm herausgerissen hat.
Dieser Horror war nicht ohne Vorwarnungen über mich hereingebrochen, obwohl ich in jener Anfangszeit alles emotional wie intellektuell viel zu aufregend fand, als dass ich sie wahrgenommen hätte. Die erste steht mir noch lebhaft vor Augen: Eines Abends, als die Sonne von der Bucht vor dem bleiverglasten Erkerfenster in meinem Zimmer reflektiert wurde (zu dieser Jahreszeit wurde es auf St. Kilda nur für ungefähr drei Stunden pro Nacht richtig dunkel), wühlte ich zufällig in der Jacke, die ich bei dem erst ein paar Tage zurückliegenden Gefängnisausbruch getragen hatte, und fand die originale Computerdisk, die Mrs. Price mir gegeben hatte. Während ich sie anstarrte, dachte ich zuerst an Max – nicht so, wie ich ihn zuletzt gesehen hatte, als ein großer Teil seines Kopfes von der Kugel eines CIA-Scharfschützen weggerissen worden war, sondern lebendig, stets zu Scherzen aufgelegt und voller Gelächter, so wie immer. Dann fielen mir allmählich die Informationen auf der Disk wieder ein – alle Informationen. Ich hatte mich ausschließlich auf die Geschehnisse um das Forrester-Attentat konzentriert und dabei völlig vergessen, dass es Max gelungen war, die Verschlüsselung eines zweiten Bildersatzes zu knacken: das alte Material von einem Todeslager der Nazis, durch das die digital eingefügte Silhouette einer nicht identifizierbaren Gestalt wanderte.
Ich schob die Disk in ein Computerterminal auf einem rustikalen Schreibtisch am Erkerfenster, rief diese Bilder auf und sah sie mir noch einmal an.
»Was Gutes?«
Beim Klang von Larissas Stimme schreckte ich ein wenig zusammen. Als ich mich umdrehte, sah ich sie eilig durch meine offene Tür hereinkommen. Ich gab ein leises, wohliges Stöhnen von mir, als sie sich auf meinen Schoß warf, mir einen flüchtigen Kuss gab und den Blick ihrer dunklen Augen dann auf den Monitor richtete. »Was in aller Welt ist das denn? Versuchst du dich ein bisschen in Geschichtsklitterung?«
»Soll das heißen, du kennst das
Weitere Kostenlose Bücher