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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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zu schmuggeln. Die Kupermans waren schon eifrig dabei, selbst fabrizierte Dokumente und Zeitschriftenartikel auf diversen Websites zu platzieren, die allesamt unsere Fälschungen stützen würden, sobald sie gefunden wurden. Kurz nach unserer Abreise kamen wir zu dem Schluss, dass wir gut daran täten, den Atlantik unter Wasser zu durchqueren, weil es am Himmel immer noch von Patrouillen wimmeln konnte, die nach dem mysteriösen Flugzeug suchten, das ihnen über der Nordsee entwischt war. Darum tauchten wir wieder in jene verlassenen Gewässer ein und fuhren knapp über dem Meeresboden nach Südwesten, bis wir auf die Grenze des Kontinentalschelfs stießen, wo die Welt unter uns wegzustürzen schien.
    Wir gingen noch tiefer hinunter, überquerten den Buckel einer großen Unterwasser-Meereskette namens Porcupine Bank und steuerten in fast tausend Meter Tiefe auf die Porcupine Plain zu: für die meisten konventionellen U-Boote eine unerhörte Leistung, jedoch offenbar nur eine von vielen erstaunlichen Fähigkeiten unseres Gefährts. Die Meeresboden-Landschaft war spektakulär (wegen der erheblich größeren Tiefe sogar in noch stärkerem Maße als bei unserer ersten Atlantik-Durchquerung), aber die gesteigerte Schönheit betonte das fortdauernde, entmutigende Fehlen aller nennenswerten Hinweise auf irgendein Leben nur umso mehr. Bald verspürte ich wieder dieselbe merkwürdige Mischung aus Verzückung und Traurigkeit wie bei unserer Reise nach Osten, und als Malcolms Stimme aus der Lautsprecheranlage des Schiffes tönte und mich bat, zu ihm in die Aussichtskuppel zu kommen, schien ihr melancholischer Klang der Schwermut meiner eigenen inneren Stimme zu entsprechen.
    Als ich die Kuppel betrat, saß er ganz allein in seinem Rollstuhl und sah zu, wie die Strahlen der starken Außenscheinwerfer des Schiffes über die dramatische Meereslandschaft huschten. Ich trat leise zu ihm, und er deutete auf einen Stuhl in der Nähe. »Setzen Sie sich, Gideon«, sagte er. »Bitte.« Er massierte sich die Stirn – in tiefer Entmutigung, wie mir schien –, aber dann schreckte er plötzlich hoch, berührte meinen Arm und zeigte durch die Hülle auf etwas Großartiges: einen einsamen Fisch von sieben, acht Metern Länge, ein seltsames Geschöpf, anscheinend irgendein Hai. Seine Bewegungen wirkten jedoch zu langsam und zu träge für diese Ordnung, und seine Augen waren keineswegs so pechschwarz, wie man es im Allgemeinen mit Haien verband, sondern leuchteten hell.
    »Ein Grönlandhai«, erklärte Malcolm. Man sah ihm an, dass er sich über den Anblick freute. »Ein Tiefseefisch.« Auf einmal verdüsterte sich seine Miene wieder. »Die von den Fischfangflotten auf dem Meeresboden abgesetzten Schalltreiber scheuchen ihn hoch. Über uns muss ein Trawler sein – dieses Geschöpf wird wahrscheinlich tot sein, bevor der Tag um ist. Das Fleisch bringt nicht viel ein, aber in diversen Regionen Asiens glaubt man, dass die Augen, wie so viele Dinge, die Manneskraft steigern.« Er seufzte frustriert. »Ich habe nie begriffen, weshalb Leute, die ein Kind nach dem anderen in die Welt setzen, sich immer solche Sorgen um ihre Manneskraft machen.«
    Ich wollte ihm darauf antworten, aber Malcolm bat mich mit einer Handbewegung, still zu sein, während er dem Grönlandhai dabei zuschaute, wie er anmutig nach oben zur Meeresoberfläche und in den Tod schwamm. Als er wieder sprach, war seine Stimme sehr leise: »Wie erstaunlich die Wunder unserer Welt doch sind, Gideon, wenn man sie klar und deutlich sieht, ohne unter dem Einfluss von Medikamenten zu stehen.« Gleich darauf bemerkte ich, dass er wieder mit den Zähnen knirschte. Entmutigt zog er die Augenbrauen hoch. »Und wie schmerzhaft ihr Anblick zugleich ist«, flüsterte er. Sein ganzer Körper begann merklich zu zittern. »Der Schmerz komprimiert die Zeit … Minuten, Stunden, Tage – ausgelöscht.« Er beugte sich zu der Glasscheibe vor und keuchte: »Wie lange habe ich dich beobachtet, mein armer, zum Tode verurteilter Freund?« Es schien mir unmöglich, dass er seine Qualen noch viel länger mit solcher Selbstbeherrschung ertragen konnte; aber erst als der Hai aus unserem Blickfeld verschwunden war, gab er den Kampf schließlich auf und zog den Transdermalinjektor aus einer seiner Taschen. »Ich hoffe, Sie entschuldigen mich, Gideon«, sagte er, drückte das Ding auf eine Ader in seiner linken Hand und entließ den Inhalt in seinen Blutkreislauf. Er lehnte sich zurück und schloss einen Moment

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