Die Täuschung
immer mehr; dann hörte ich ihn hinter dem Gehäuse einer Fahrstuhlmaschinerie flüstern: »Gideon! Seien Sie doch still, Sie Dummkopf! Sonst werden wir noch alle beide umgebracht!«
Ich konnte ihn noch nicht sehen, aber es erleichterte mich, dass er am Leben war. »Sind Sie verletzt, Leon?«, rief ich.
»Noch nicht!«, antwortete er. »Aber wenn Sie nicht aufhören, mich – o nein.« Die Furcht, die plötzlich in seiner Stimme mitschwang, deutete darauf hin, dass Eshkol in der Nähe war; und als ich hochschaute, sah ich den riesigen Kerl flach auf dem Fahrstuhlgehäuse liegen, wo er vor dem Feuer der Malaysier geschützt war, und mit der Rail-Pistole über die andere Seite nach unten zielen. Ich hörte, wie er den Rucksack und den Behälter verlangte und Tarbell dafür versprach, ihn am Leben zu lassen.
»Du verlogener Eunuch!«, sagte Leon. »Wir kennen dich zu gut …«
Was als Nächstes geschah, war zwar vorhersehbar, aber auf albtraumhafte Weise unabwendbar. Eshkol hatte bereits eine so ausgeprägte Lust am unnötigen Töten an den Tag gelegt wie noch kaum ein Soziopath, dem ich bisher begegnet war. Daher gab es keinen Grund zu der Annahme, Leon – der weder eine Waffe noch eine Deckung noch irgendeinen anderen Trumpf hatte – würde die Gnade zuteil werden, die so vielen anderen versagt geblieben war. Trotzdem brachte mich der leise Knall der Rail-Pistole dazu, mit einem lauten Schrei aus meinem Versteck zu stürzen. Eshkol schien zu erschrecken; er drehte sich um. Vielleicht glaubte er, dass ich nur dann so dumm wäre, wenn ich über eine andere Wunderwaffe verfügte; vielleicht hatte er aber auch alle menschlichen Gefühle, die er noch besaß, so vollständig an seine toten Vorfahren verschwendet, dass ihm der Gedanke fremd war, jemand könnte sich einfach nur aus Brüderlichkeit oder Kummer in Gefahr bringen. Wie auch immer, er schaute völlig verwirrt drein, und diese Verunsicherung rettete mich wahrscheinlich. Ganz bestimmt wuchs seine Verwirrung noch erheblich – wie die von General Said, dessen Männern und, wie es schien, den amerikanischen Drohnen –, als sich der Himmel über dem Hotel auftat und den Blick auf Julien freigab, der wieder einmal in der Luke unseres Schiffes stand.
Er hielt eine Betäubungswaffe mit großer Reichweite in der Hand, die er auf die Stelle richtete, wo Eshkol lag. Doch auch jetzt zeigte sich wieder, dass Eshkol in seiner Laufbahn schon eine Vielzahl ähnlicher Situationen überlebt haben musste: Er verschwand von seinem erhöhten Platz, glaube ich, noch bevor Fouché auf den Abzug drückte. Ein plötzlicher Aufschrei der verbliebenen Malaysier – die beim Anblick des in der Luft schwebenden, brüllenden Franzosen endgültig die Fassung verloren – ließ erkennen, dass Eshkol über eine beschädigte Treppe auf dem Weg vom Dach zur Straße hinunter war. Keiner der Soldaten war jedoch willens, die Verfolgung aufzunehmen, jedenfalls nicht, bevor General Saids Ermahnungen sich in offene Drohungen verwandelten. Als die Soldaten sich schließlich in Bewegung setzten, eilten Colonel Slayton und Larissa zu mir herüber; aber ich war bereits zu dem Fahrstuhlgehäuse gerannt und hatte es umrundet.
Von Leon war nur noch ein Arm übrig – in Anbetracht der Vorsicht, die sein Mörder hatte walten lassen, um ihn nicht zu beschädigen, wahrscheinlich derjenige, mit dem er den Rucksack und den Sicherheitsbehälter festgehalten hatte. Von beidem fehlte jede Spur, aber das war mir in diesem Moment völlig egal. Ich fiel auf die Knie und begann, in einer von totaler Erschöpfung geprägten Trauer unter Tränen vor mich hin zu glucksen: Der Mittelfinger von Leons toter Hand war nämlich gereckt, und mit dieser Geste hatte er sicherlich sein Schicksal empfangen, als es ihn ereilte. Gleich darauf legte Larissa die Arme um mich; sie versuchte, mich hochzuziehen und zu der niedersinkenden Luke des Schiffes zu zerren, aber in meinem Kummer wollte ich mich partout nicht von der Stelle rühren. Die Soldaten auf der Straße begannen uns unter Beschuss zu nehmen, während die Drohnen mit der eindeutigen Absicht auf die Luke zuschwebten, sie zu inspizieren, damit ihr Bedienungspersonal entscheiden konnte, ob sie angreifen sollten oder nicht. Aber ich weigerte mich noch immer zu gehen. Ich wollte mir unbedingt erst noch darüber klar werden, was in Gottes Namen ich mit Tarbells Arm machen sollte.
Auf einmal kam mir der Gedanke, dass Leon nichts mehr genossen hätte als den Schrecken, den
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