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Die Täuschung

Die Täuschung

Titel: Die Täuschung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Caleb Carr
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dieses einsame, unheimliche Überbleibsel seiner irdischen Existenz auslösen würde, wenn es plötzlich dort unten in die Menge fiel. Aus dem Zusammenhang gerissen mag der Scherz grässlich und sogar grotesk erscheinen; aber in diesem Moment war ich von so viel Gewalt von solch bizarren, ja sogar absurden Ausmaßen umgeben, dass ich die Idee absolut angemessen fand. Deshalb hob ich einen Fuß und schleuderte die Überreste des merkwürdigen kleinen Mannes, der sich seit meiner Ankunft auf Malcolms Schiff als echter Freund erwiesen hatte, in die Tiefe, damit er der Welt einen letzten Streich spielen konnte.

39
    Ü ber unsere Flucht und den Rückzug in sichere Entfernung kann ich wenig sagen, denn der Schock hatte meine Sinne getrübt. Als sich die Luke des Schiffes hinter uns schloss und die vollständige holografische Projektion um das Gefährt herum reaktiviert wurde, gerieten die Drohnen anscheinend lange genug aus dem Konzept, dass wir die Küste erreichen und in die Straße von Malakka tauchen konnten; aber die Tatsache blieb bestehen, dass vier von uns beobachtet und zweifelsohne identifiziert worden waren. Dass man Slayton gesehen hatte, war schlimm genug, aber Larissas Anwesenheit würde unsere Widersacher sicherlich veranlassen, unangenehme Fragen über Malcolm und wahrscheinlich auch über St. Kilda zu stellen, sobald man herausfand – was unvermeidlich schien –, dass ihm die Inseln gehörten. Doch trotz dieser Gefahr und seines eigenen tiefen Kummers über Tarbells Tod war Malcolm entschlossen, in der Nähe von Kuala Lumpur zu bleiben, bis wir wussten, wohin der nunmehr schwer bewaffnete Eshkol wollte. Alle Systeme des Schiffes waren aktiviert und überwachten den zivilen und militärischen Luftverkehr sowie den Nachrichtentransfer auf See, private Handy-Gespräche, E-Mails, sichere Internet-Server, sogar die Funkgeräte kleiner Fischerboote. Eshkol hätte überall in Malaysia sein können, aber irgendwo musste er stecken, und wenn er sich anschickte, das Land zu verlassen – und das würde er tun, so viel stand fest –, wollte Malcolm ihm unmittelbar auf den Fersen sein.
    Meiner Mitwirkung an diesem Unternehmen, die anfangs so begeistert gewesen war, mangelte es mittlerweile nicht nur an Konzentration, ich war auch mit dem Herzen nicht mehr richtig dabei. Die Umstände von Tarbells wie auch von Max’ Tod hatten mir eine Seite des menschlichen Wesens gezeigt, die ich schlimmer fand als alles, was mir in den ganzen Jahren meiner akademischen Beschäftigung mit kriminellem Verhalten begegnet war. Doch während Max’ Tod in mir den Wunsch geweckt hatte, Erklärungen von den Leuten zu erhalten, die ihre Machtpositionen so massiv missbraucht hatten, und mich an ihnen zu rächen, schien Leons Schicksal zu bestätigen, was ich bereits geahnt hatte: dass sich die Teilnahme an solchen Spielen mit hohen Einsätzen, selbst aus den hehrsten Motiven heraus, nicht nur als katastrophal, sondern auch als korrumpierend erweisen würde. Kurz, ich erkannte, dass die tragischen Geschehnisse, die wir erlebten, das Ergebnis des kollektiven Wunsches aller Beteiligten – nicht nur Dov Eshkols – waren, dem, was sie für richtig hielten, zum Sieg zu verhelfen.
    »Was soll das heißen, Gideon?«, fragte mich Larissa, als wir in meiner Kabine im Bett lagen, nachdem wir zwölf Stunden lang relativ schweigsam im Geschützturm Wache gehalten hatten. »Dass wir genauso schlimm sind wie Eshkol?«
    »Nein«, wehrte ich mich ein wenig entrüstet gegen ihre demagogische Vereinfachung. »Aber du kannst nicht leugnen, dass er in General Saids Bowlinghalle heimlich, still und leise getötet worden wäre, wenn wir uns aus der ganzen Sache herausgehalten hätten. Und was wäre, wenn Malcolm die Stalin-Bilder gar nicht erst hätte anfertigen lassen? Eshkol hätte einfach weiterhin getan, was Hunderte von Geheimagenten jeden Tag tun. Es hätte gar keine Krise gegeben.«
    Larissa setzte sich auf. »Mit ›was wäre, wenn‹ konnte ich noch nie viel anfangen«, sagte sie knapp. »In Situationen wie dieser, überhaupt in jeder Situation, in der es um Macht und Gewalt geht, ist Tugend etwas Relatives. Und relativ gesehen, würde ich sagen, sind wir in dem ganzen Schlamassel die Einzigen, die wenigstens versuchen, etwas Gutes zu tun.«
    Ich starrte an die Decke. »Wie lautet noch gleich dieser alte Spruch – dass es immer die guten Menschen sind, die den größten Schaden in der Welt anrichten?«
    Larissa schaute noch verärgerter drein;

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