Die Tarotspielerin: Erster Band der Tarot-Trilogie (German Edition)
Karte drei. Eine Schwertkarte. Schwerter standen immer für Konflikte – innere wie äußere. Sie seufzte. Vor ihr lag der König der Schwerter. Ein herrischer Mann mit asketischem Gesicht, der vor luftiger Landschaft thronte. Ein Meister des Verstandes, kühl und berechnend, begabt zur Intrige. Könige, Königinnen, Ritter und Pagen konnten für die Person des Fragenden – in diesem Falle für Sidonia – oder für dessen Feinde stehen. Lunetta zweifelte nicht lange. Mit dem König der Schwerter konnte nicht Sidonia gemeint sein. Nicht weil sie eine Frau war – auch Frauen gestand das Tarot männliche Verhaltensweisen wie Mut, Verstand und Kampfeslust zu. Doch dieser König lag verkehrt herum und verkörperte damit Grausamkeit und den Missbrauch des Verstandes. Es gab keinen Zweifel, Karte drei stand für Aleander. Sidonia musste auf der Hut sein – jede Illusion über ihn konnte ihren Untergang bedeuten.
Lunetta fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Trotz der Kühle der Nacht stand Schweiß auf ihrer Stirn. Die vierte Karte lag verdeckt auf ihrem Platz. Sie würde verraten, was Sidonia in dieser Situation drohte oder was Rettung versprach. Entschlossen deckte Lunetta die Karte auf. Wieder Schwerter. Ein Kampf stand bevor. Ein Kampf, bei dem es nicht auf Waffen aus Stahl und Eisen ankam, sondern auf die Waffe des Verstandes. Mit verschlagenem oder – je nach Betrachtungsweise – verschmitztem Gesicht stahl sich auf dem letzten Bild ein Gauner mit sieben gestohlenen Schwertern aus einem Feldlager davon.
Lunetta runzelte die Stirn. Bedeuteten die sieben Schwerter, dass Sidonia mit einer List ihrem Widersacher entkommen konnte, oder würde sie selber das Opfer von Tücke und Betrug sein? Noch einmal fiel ihr Blick auf den König der Schwerter, der das Kreuz krönte und beherrschte. Hatte Sidonia eine Chance gegen ihn? Rasch zählte sie die Ziffern auf den Karten zusammen und bildete die Quersumme: Acht. Die achte Karte der großen Trümpfe, jener Karten, die Sidonia bei sich trug, war die Quintessenz dieser Legung: Das in diesem Kreuz bewahrte höhere Geheimnis. Die achte Karte war die Karte der Kraft. Lunetta kannte das Bild genau. Es zeigte eine junge Frau, die einem Löwen das Maul aufriss.
Ihr Herz pochte freudig. Wenn Sidonia Illusionen vermied und zugleich mit Listen ihres Gegners rechnete, dann konnte sie demnächst einen Sieg über den Dominikaner erringen. Lunetta kniete sich vor den Karten hin und faltete die Hände zu einem Gebet, das ihre Mutter sie gelehrt hatte: »Herr, lasse dein Angesicht leuchten über Sidonia! Gib ihr den Mut und die Kraft, die Dinge zu ändern, die sie zu ändern vermag, und die Demut, die Dinge hinzunehmen, die nicht zu ändern sind, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.«
»Verfluchtes Teufelskind«, schrie ihr Wächter, der von ihrem Gebet geweckt worden war. Mit langen Schritten kam er auf sie zu.
»Was treibst du da? Beschwörst du die Hexen des Cebreiro?«
4
Aleander lag ausgestreckt auf dem Bett. Sein sehniger, von Narben überzogener Körper schimmerte weiß im Licht der Wachskerzen. Er erinnerte an einen Märtyrer. Sidonia stand neben dem Bett und ließ den Strick seiner Kutte durch ihre Hände gleiten.
»Was hast du vor«, fragte der Mönch.
»Ich weiß, dass es dir Lust bereitet, Schmerz zu verursachen.«
Aleander lächelte. »Schmerz ist Reinigung. Abtötung des Fleisches bedeutet die Macht zur Selbstbeherrschung. Und damit zur Herrschaft. Als Student in Paris lernte ich, auf diese Weise meinen Körper ganz für Gott zu öffnen.«
»Das klingt schauderhaft«, entschlüpfte es Sidonia.
»Nicht, wenn man den Schmerz in Freude und Erkenntnis der seelischen Unverwundbarkeit verwandelt. Hat der Herr nicht seinen eigenen Sohn den Weg des Schmerzes gehen lassen, um ihn dann über alle Menschen zu erhöhen?«
Sidonia unterdrückte einen Laut des Abscheus. Was fiel diesem Mann ein, sich mit Jesus selbst zu vergleichen! Dieser Ketzerjäger war der ärgste Ketzer von allen, er verdrehte die gesamte Glaubenslehre, machte sich selbst zum Gott.
»Nun«, sagte sie schmeichelnd, »vielleicht ist es an der Zeit, deine Lust wieder in Schmerz zu verwandeln und deinen Schmerz in noch größere Lust.«
»Und du, ein Weib, willst die Macht haben, mir Schmerzen zuzufügen? Mir? Du überschätzt dich, mein Kind, du weißt nicht, was ich erleiden musste, um zu werden, wer ich bin.«
Sidonia fasste seine Handgelenke und legte spielerisch den Strick
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