Die Therapeutin - Grebe, C: Therapeutin - Någon sorts frid
da. Eine Gruppe Jugendlicher, die davor saß und Zimtschnecken gegessen hat, hat sie gesehen. Sie wollte gerade wieder nach Hause, weißt du. Die Odengatan überqueren. Es war rot, und sie hatte keine Reflexstreifen oder so. Ich glaube, sie fand das … unnötig.«
Christer bricht ab, ich sehe, dass sich seine Augen wieder mit Tränen füllen.
»Ein Auto kam, ist wohl zu schnell gefahren und hatte gar nicht die Möglichkeit, anzuhalten. Nicht die geringste Möglichkeit.«
Christer schüttelt den Kopf und bearbeitet das Nagelbett seines Mittelfingers, zieht langsam einen langen Hautstreifen ab, so dass das Fleisch freigelegt wird. Er scheint den Schmerz nicht zu spüren.
»Es gab Zeugen«, setzt er wieder an. »Die haben gesehen, wie sie durch die Luft geflogen ist. Mehrere … mehrere Meter, haben sie gesagt.«
Er klingt merkwürdig sachlich und gefasst, aber ich habe schon früher Menschen unter Schock erlebt und weiß, dass er die Lage noch gar nicht richtig verstehen und die Konsequenzen nicht erfassen kann. Neben uns fängt der an Parkinson erkrankte Mann laut und vernehmlich an zu weinen. Seine Frau schaut sich entschuldigend um, steht auf und manövriert seinen Rollstuhl hinaus.
»Und, ja, das Auto war gleich weg. Vielleicht jemand, der betrunken war oder keinen Führerschein hatte oder einfach nur Angst gekriegt hat. Auf jeden Fall ist er abgehauen. Und niemand hat sein Kennzeichen aufschreiben können.«
»Und wie geht es Marianne?«
»Sie hat Schädelverletzungen. Die haben, wie heißt das, eine Computertomographie haben sie gemacht. Sie haben offenbar keine Blutungen entdeckt, aber das Gehirn ist angeschwollen. Deshalb ist sie bewusstlos.«
»Dann wird sie wieder gesund werden?«
»Es ist ernster, als es klingt. Sie müssen versuchen, die Schwellung wegzukriegen. Wenn das nicht gelingt, dann wird sie bleibende Hirnschäden bekommen oder im schlimmsten Fall sterben. Ich bin eben bei ihr gewesen. Sie liegt wie eingeschnürt da, mit Schläuchen, Tropf und allen möglichen Geräten.«
Christer seufzt, seine Augen werden wieder feucht.
»Ich hätte da sein sollen. Ich hätte für sie einkaufen sollen. Ich begreife nicht, warum sie unbedingt in der Dunkelheit noch raus musste und… keine Reflektoren. Sie hatte keine Reflektoren. Ich selbst war bei einem Geschäftsessen. Die Polizei hat mich auf dem Handy angerufen. Ich saß da und hab
Jakobsmuscheln in Weinsauce gegessen. Es ist einfach schrecklich. Ich habe Jakobsmuscheln gegessen, habe ich das schon gesagt? In Weinsauce. Und sie…sie…«
Christer beißt die Zähne zusammen, und ich kann nicht anders, ich muss seine Hand nehmen. Sie leicht drücken.
»Es tut mir so leid«, murmle ich.
»Ich bin froh, dass du gekommen bist.« Christer sucht meinen Blick. »Danke, Siri«, flüstert er und erwidert den Druck meiner Hand.
Ich reiße mich zusammen, versuche Worte zu finden, um mich auszudrücken, ohne aufdringlich zu wirken.
»Weißt du, worüber Marianne mit mir sprechen wollte?«
Christer schaut mich an, die rotverweinten Augen flackern, als würde er diese unpassende Frage gar nicht verstehen.
»Keine Ahnung. Spielt das denn jetzt noch eine Rolle?«
Ich schüttle langsam den Kopf und drücke erneut leicht seine Hand.
»Nein, das spielt jetzt keine Rolle mehr.«
Manchmal denke ich an meine letzte Zeit mit Stefan. Der Frühling 2005 war schwer. Ein Splitter an Unsicherheit hatte sich in meine und Stefans Beziehung gebohrt, eine Einsicht, die scheuerte. Die Unvorhersehbarkeit des Lebens? Vielleicht war das die Ursache. Mein Körper hatte wieder seine normale, jungenhafte Form angenommen. Die kleine Wölbung des Bauches, die für alle außer Stefan und mir so gut verborgen geblieben war, war fort. Ich war wieder leer.
Wir waren in das Haus auf Värmdö gezogen. Vielleicht war das jetzt unser Projekt. Ein Ersatz für das Kind, das nie kam. Anfangs ging alles gut. Wir renovierten gemeinsam von morgens bis abends. Wir konnten tagelang schweigen, versunken in tiefe Konzentration, das Essen vergessen, zwei verschwitzte Körper, Seite an Seite. Kurze Kommentare:
»Hast du die Wasserwaage?«
Danach wieder Schweigen.
Dann fing Stefan an, nach und nach in Passivität zu verfallen. Ich glaube, dass der Verlust des Kindes ihn härter traf als mich. Er entzog sich mir und auch anderen immer mehr. Seine tägliche Joggingtour wurde immer länger.
»Es kann doch nicht gut sein, jeden Tag zehn Kilometer zu laufen«, sagte ich zu ihm, aber er
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