Die Tiefe einer Seele
gehen. Auf unbestimmte Zeit.«
Elias hatte sich auf dem Sofa aufgesetzt und sah seine Eltern eindringlich an. »Also wenn Ihr mich fragt, dann ist das Ganze zwar lieb gemeint von diesem James, aber mal ehrlich: Glaubt Ihr wirklich daran, dass er den Schalter umlegen kann bei Amelie? Ich meine, hallo? Der ist Journalist, verdammt! Kein Arzt oder gar ein Wunderheiler.«
»Aber er liebt Amelie. Das hat er mir heute am Telefon noch mal versichert.«
»Ja toll, Mama! Du liebst sie auch. Papa liebt sie und ihre Brüder ebenso, selbst wenn einige von ihnen manchmal eine seltsame Art haben, das zu zeigen. Das hat in all den Jahren ihrer Krankheit nicht wirklich etwas verändert. Und denk doch mal an Robert Enke, unseren Nationaltorhüter. Kannst Du Dich noch an die Pressekonferenz erinnern, die seine Frau nach seinem Selbstmord gegeben hat? Rotz und Wasser hast Du damals geheult, als sie sagte, dass sie geglaubt hatten, mit Liebe würde alles gehen, aber dass sie sich geirrt hätten. Ein tödlicher Irrtum. Wenn Amelie gesund wird, dann nicht, weil James sie liebt oder wir oder sonst wer auf diesem Globus, sondern nur, weil sie es selbst will. Und das ist der Punkt. Will sie es? Will sie es wirklich? Da bin ich mir nämlich nicht so sicher.«
»Ich habe doch gar nicht behauptet, dass alleine die Liebe dieses jungen Mannes ein Wunder vollbringen könnte. Aber sie könnte zumindest etwas auslösen bei Amelie. Etwas, was ihr die Kraft gibt, ganz neu zu beginnen.«
»Gut möglich. Ich will jedenfalls schwer hoffen, dass dieser Typ merkt, wenn es nicht mehr geht und Amelie beizeiten in ärztliche Behandlung gibt. Sonst kriegt er es nämlich mit mir zu tun.«
Egidius und Magda konnten nicht anders, sie mussten lachen. Ihr Jüngster war einfach zu niedlich, wenn er sich zum Beschützer seiner älteren Schwester aufplusterte. Aber selbst wenn sie es ein wenig belustigte, so liebten sie Elias dafür noch ein bisschen mehr. Er war für seine 19 Jahre schon erstaunlich verantwortungsbewusst, was wahrscheinlich auch dem Umstand geschuldet war, dass seine Kindheit abrupt zu Ende gegangen war. Nämlich ganz genau am 15. März 2003.
»Und mein Junge?«, zwinkerte Egidus seinem Sohn zu. »Was liegt heute so an?«
Elias errötete schlagartig. »Ach, eigentlich nichts. Vielleicht gehe ich später noch ins Kino. ‚Iron Man 3‘ ist doch gerade angelaufen.«
Magda Johannson schlug sich an den Kopf. »Oh verflixt, das habe ich total vergessen. Imke Dierksen hatte nämlich auch angerufen. Ob Du sie eventuell etwas eher abholen könntest, um vor dem Kino noch ein Eis zu essen? Sie hat Dich auf dem Handy nicht erreicht.«
Elias sprang vom Sofa auf und kramte hektisch sein Smartphone aus der Hosentasche. Mist, der Akku war leer. Ohne ein weiteres Wort stürmte er aus dem Zimmer und rannte nach oben.
»Äääh, wieso habe ich gerade mal wieder das Gefühl, dass ich nichts von dem, was in diesem Haus passiert, mitbekomme?« Egidius Johannson blickte seine Frau vorwurfsvoll an, die lächelnd mit den Schultern zuckte.
»Nun, vielleicht, weil Du manche Sachen auch gar nicht sehen willst? Zum Beispiel, dass unser Jüngster auch flügge wird?«
»Imke Dierksen? Fietes Tochter? Seit wann läuft da denn was?«
»Seit ein paar Wochen. Obwohl Dein Sohn ja behauptet, es wäre alles rein freundschaftlich. Mir macht er da aber nichts vor. Die zwei sind wirklich süß miteinander. Schade, dass sie sich schon bald trennen müssen, wenn Elias zum Studium aufs Festland geht. Aber ein paar Wochen haben sie ja noch.«
»Und warum ist er jetzt nicht gleich los, wenn die Liebe doch gerade erblüht ist?«
»Gide, manchmal stellst Du Dich dümmer an, als Du bist. Natürlich muss er sich erst frisch machen und stylen.«
»Wie bitte? Also, als wir in der Sturm- und Drangzeit waren, blieb das »Schickmachen« eigentlich den Mädels vorbehalten.«
»So ändern sich die Zeiten«, grinste Magda.
»Ja, so ändern sich die Zeiten«, seufzte ihr Mann, musste dann aber auch lachen.
Zehn Minuten später ging alles seinen gewohnten Gang in dem kleinen Friesenhaus. Der Pastor hatte sich an seinen Schreibtisch gesetzt und bereitete die Predigt für den nächsten Sonntag vor, während Magda in der Küche die Spülmaschine ausräumte. Sie stellte gerade den letzten Teller in den Schrank, als sie ein seltsames Gefühl durchströmte. Im gleichen Moment hörte sie ein dumpfes Geräusch aus der oberen Etage. Ohne nachzudenken, setzte sie sich in Bewegung. Rannte die Treppe
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