Die Tiefe einer Seele
Arme. Drückte sie so fest an sich, dass die Luft ihnen schon bald zu knapp wurde, umschlang sie voller Verzweiflung und Angst vor dem, was ihn zu vernichten drohte.
»Hilf mir, Amy, bitte!«, murmelte er in ihre vom Meereswind zerzauste rote Mähne. »Was soll ich bloß tun?«
Mit einiger Anstrengung schaffte sie es, ohne sich aus seiner Umarmung zu lösen, einen kleinen Abstand zwischen sich und dem aufgewühlten Mann zu bringen. Wieder vereinnahmten ihn ihre unvergleichlichen Augen.
»Erin sagte mir, dass Du seit Liams Beerdigung nicht mehr an seinem Grab gewesen bist. Das wäre ein Anfang, James! Geh dort hin, mein Schatz. Besuche das Grab, besuche Deinen Sohn. Schließe ihn nicht länger aus. Denn genau das tust Du. Ja, er ist tot, aber er sollte, nein, er muss sogar weiter zu Deinem Leben gehören. Also geh zu ihm!«
Traurig senkte der dunkelhaarige Mann den Kopf. »Das kann ich nicht, Amy. Ich kann es einfach nicht.«
»Doch Du kannst es«, widersprach Amelie ihm und lehnte ihren Kopf gegen seine Brust. »Wenn Du es nur willst, dann schaffst Du alles, glaub mir!«
Noch ewig blieben die zwei so stehen. Und wussten insgeheim, dass es möglich sein könnte. Dass die Zeit die Wunden vielleicht nicht heilen, aber vernarben lassen würde. Sie würden es herausfinden. Eines Tages!
Irgendwann lösten sie ihre Umarmung doch. Schweigend lichtete James den Anker, während Amelie ein weiteres Mal den Anblick des Nantucket Sound in sich aufsog. Als sie die Jacht wenig später im Hafen von Hyannis Port vertäuten, zogen dunkle Wolken auf. Die Vorhersage schien zu stimmen, ein Unwetter lag in der Luft.
Zügigen Schrittes eilten die beiden den Steg hinauf zu dem Parkplatz oberhalb des Hafens, wo der Landrover der Familie Prescott stand. Sie hatten gerade die Türen des Autos hinter sich zugezogen, als die ersten Regentropfen auf das Autodach donnerten. James wollte den Motor starten, doch Amelie legte ihre Hand auf seine und hinderte ihn daran. »Warte, James, ich muss Dir noch etwas sagen.«
James blickte überrascht zur Seite. »Findest Du nicht, dass wir es für heute gut sein lassen sollten, Sweety?«, fragte er mit leicht sarkastischem Unterton. »Sonst kriegen wir wohlmöglich das große Heulen, angesichts unserer Miseren.«
Amelie zuckte mit den Schultern. »Genau das ist es, was ich verhindern will«, erklärte sie mit ernster Stimme. »Ich will es verhindern, und ich werde es auch verhindern. Daher habe ich mich entschlossen, in eine Therapie zu gehen. Erin ist gerade dabei, etwas Passendes für mich zu finden.«
Kapitel 43
1. Juli 2018 – Baltimore, Maryland
»Daddy, stimmt das?«
»Was soll stimmen, mein Engel?« James schaute seine Tochter fragend an.
»Ist es wahr, dass Mommy einen Ball verschluckt hat?«
James schnappte kurz nach Luft und versuchte dann angestrengt, seine Belustigung zu verbergen, war es doch unübersehbar, dass die kleine Ella Alexandra Prescott ernsthaft an der Beantwortung dieser Frage interessiert war.
»Wer sagt denn so etwas, Süße?«
»Na, Erin. Ich habe gesehen, wie sie Mommy die Hand auf den Bauch gelegt hat. Der ist ja auch echt dick geworden. Da habe ich Erin, weil sie doch ein Doktor ist, gefragt, warum das so ist, und da hat sie gemeint, es wäre nicht so schlimm, Mommy hätte nur einen Ball verschluckt.«
Vorwurfsvoll blickte James seine Schwester über den Rand seiner Kaffeetasse an. Am Tag zuvor war Erin zu einem Besuch bei ihnen eingetroffen. Wobei es eher eine Flucht war. Eine Flucht vor dem allgegenwärtigen Donovan O’Really, dem Kunstdozenten, dessen Herz für seine Studentin entflammt war, der aber auf nichts, als auf eine grenzenlose Abwehr gestoßen war. Und dennoch nicht aufgab. Weil er Erin liebte, so wie sie ihn liebte, es bloß nicht wahrhaben wollte.
James gab seiner Tochter, die ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten war, einen spielerischen Klaps auf den Po. »Du solltest nicht alles glauben, was Deine Tante Dir erzählt, Süße. Und jetzt lauf‘, und schau, wo Mommy bleibt. Daddy muss gleich los zur Arbeit.«
Liebevoll sah er seiner kleinen Maus hinterher, die hurtig aus der Küche huschte. Dann wandte er sich erneut seiner Schwester zu.
»Amy halt also einen Ball verschluckt? Findest Du es richtig, dass Du Ella als ihre Patentante solche Märchen auftischst?«
Erin grinste ihn unverschämt an. »Na was denn, Bruderherz«, spottete sie. »Hätte ich ihr lieber sagen sollen, dass ihr Vater sich ihrer Mutter wieder einmal
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