Die Tiefe einer Seele
Wunder, dass er sich nun für diese Frau interessierte, wie auch immer dieses Interesse zu definieren war. Ohne Näheres zu wissen, hoffte Erin inständig, dass dieses fremde Mädchen die versteinerte Hülle ihres Bruders würde knacken können. Ihm vor Augen führen könnte, dass er jenen Tag im November 2006, den schlimmsten seines bisherigen Lebens, nicht einfach verdrängen durfte. Dass er ihn annehmen und mit ihm leben müsse, so wie sie selbst es schon vor langer Zeit getan hatte. Nur in diesem schmerzvollen Begreifen lag die Chance auf einen echten Neuanfang, den Beweis dafür hatte Erin am eigenen Leib erfahren. Bills Sorge, das Mädchen könnte James »runterziehen«, teilte sie nicht. Ihr Bruder war kein Mensch, der sich unterkriegen ließ, umso mehr war es verwunderlich, dass er das, was mit Liam geschehen war, nicht wirklich an sich heranließ. Erin wünschte sich inständig, dass er das endlich täte, damit er weitergehen konnte auf dem Weg, der ihm seit jeher bestimmt war.
Tja, und was die weiteren News betraf, die Bill zu verkünden gehabt hatte, da hatte sie auch ein wenig schlucken müssen. Ruben, das etwas verwegene Sandwich-Kind unter den drei Brüdern, hatte in den letzten zwei Jahrzehnten so ziemlich alles gevögelt, was ihm vor die Füße gefallen war. Aber das er jetzt ausgerechnet mit Anabel Dawson Prescott anbandeln musste, das ging ja gar nicht. Eben jene Frau, die durch ihre bloße Anwesenheit die Auswirkung der Erderwärmung auf die Polkappen rückgängig würde machen können. Was zum Teufel dachte sich dieser Schwachkopf nur dabei? Es gab nicht viele Menschen, die Erin Eliza Prescott von Grund auf verabscheute. Ihre Ex-Schwägerin Anabel gehörte zweifellos dazu. Bei allem Mitleid, das sie für sie empfunden hatte, blieb ihr doch unvergessen, wie diese menschliche Hyäne über ihren Bruder hergefallen war. Sie war ganz und gar in der Rolle des schuldlosen, reinen Engels aufgegangen, wohingegen James in ihrer Vorstellung die nackte Ausgeburt Luzifers personifizierte. Erin hatte versucht, das Verhalten Anabels zu verstehen, genauso wie es der Rest der Familie getan hatte. Schließlich war es alles andere als eine leichte Zeit gewesen. Für alle! Aber das Verständnis hatte Grenzen gefunden und heute war da nichts als Verachtung für ein niederträchtiges Benehmen nicht nur James gegenüber, sondern gegenüber der ganzen Familie Prescott. Bei aller Liebe, Ruben würde ihr erklären müssen, was das sollte. Diese Person wieder auftauchen zu lassen, wo man sie zum Glück schon längst vergessen geglaubt hatte. Erin konnte nicht anders, sie musste grinsen. Unter normalen Umständen hätte ihr missratener Bruder sie schon längst angerufen, um sie über seine neuste Errungenschaft zu informieren. Aber wahrscheinlich ging ihm gerade der Arsch auf Grundeis, weil er das Donnerwetter seiner kleinen Schwester fürchtete. Zu recht! Nun gut, wenn der Prophet nicht zum Berg kommen wollte, dann sollte es eben andersrum sein. Ohne ihre müden Knochen übermäßig zu beanspruchen, kramte sie nach ihrem Handy in der Hosentasche ihrer Jeans und wählte unter den Kontakten den ihres Bruders Ruben. Sie musste einige Male klingeln lassen, aber schließlich ging er doch ran. Dieser Judas!
Kapitel 13
14. Mai 2013 – Berlin
»Was hast Du überhaupt in Hamburg gemacht? Da kamst Du doch her, oder?«
Amelie und James saßen in einem kleinen bürgerlichen Restaurant am Kudamm und aßen. Genauer gesagt hatte der Amerikaner nach der Hälfte des Zigeunerschnitzels, was dann demnächst wohl politisch korrekt »Schnitzel mit pikanter Soße« heißen würde, kapituliert. Wohingegen seine weibliche Begleitung nicht im Traum daran dachte, die Nahrungsaufnahme einzustellen und fleißig weiter in sich hinein schaufelte. James hatte über dieses Lokal in einem Reiseführer eines Kollegen gelesen, der dazu geschrieben hatte, dass das Essen empfehlenswert sei, aber die Portionen so groß, dass man sie unmöglich vertilgen könne.
Werde ich dem guten Mann mal erzählen müssen, dass das sogar eine Frau geschafft hat. Ein Winzling besser gesagt!
Ungläubig verfolgte der Amerikaner das Geschehen. Das war doch nicht normal!
Vielleicht hat sie diese Fress- und Brechgeschichte, wie heißt das noch gleich? Bulimie?«
Er würde sie im Auge behalten, das nahm James sich fest vor. Und wenn sie nach dem Essen sofort auf die Toilette verschwinden wollte, dann würde er diese entern und die Miss auf frische Tat ertappen.
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