Die Tiefe einer Seele
einfach unmöglich, diese Frau. Und woher will sie wissen, wie es in einem solchen morgenländischen Etablissement riecht? Überhaupt, diese Ausdrucksweise in Gegenwart meines Sohnes, das geht ja gar nicht. Ich werde ein ernstes Wort mit ihr reden müssen.
Er wandte sich erneut seinem Computer zu. Die Ruhe im Raum, der auch der Lärm der Autos von draußen nicht wirklich etwas anhaben konnte, und der leicht kühle Windzug, der durch das geöffnete Fenster unverbrauchten Sauerstoff in das Büro trug, waren wohl dafür verantwortlich, dass er die Aufstellung der Bilanzen fertigstellen und sogar noch einige Seiten des neu hereingekommenen Manuskriptes lesen konnte.
Bis ein Schmerzensschrei ihn auf den Plan rief. Erschrocken sprang er auf und eilte den Flur herunter. Seine Schwester stand in seiner Küche und rieb sich den Unterarm. Sie weinte. Vor ihr verharrte Liam und blickte sie mit angsterfüllten, weitaufgerissenen Augen an. »Was ist passiert«, stieß James aufgeregt aus.
»Ich hab‘ mich an diesem scheiß Backblech verbrannt«, jammerte Erin.
»Zeig mal her!«, forderte ihr Bruder sie auf und griff nach ihrem Arm. Entsetzt sah er, dass sich eine riesige Brandblase zu bilden begann. Unverzüglich zog er sie zu Spüle und drehte das kalte Wasser auf. »Halt den Arm da drunter, ich schau mal eben in unsere Hausapotheke, wir brauchen eine Brandsalbe.« Er rannte geschwind durch den Flur zum Bad und fand nach einigem Suchen die Salbe hinter den Migräne-Tabletten von Anabel. Er lief zurück in die Küche, wo seine Schwester noch immer brav ihren Arm unters Wasser hielt. »Mann, das tut so weh!«, stöhnte sie.
»Du bist aber auch ein Tollpatsch, wie er im Buche steht«, schimpfte James mit ihr, drehte das Wasser ab und trocknete den Arm vorsichtig mit einem sauberen Tuch. Ebenso bedächtig trug er die Salbe auf und tätschelte anschließend das tränenüberströmte Gesicht seiner kleinen Schwester. »Wird schon wieder gut!«, murmelte er. So hatte er sie seit jeher getröstet und es hatte immer geholfen. Auch jetzt. Erins Tränen versiegten, und sie bedankte sich bei ihrem Bruder mit einem Kuss auf die Wange. Gerührt nahm er sie in den Arm. Die Geschwister verweilten so eine Zeitlang und hielten sich innig umfangen. Doch plötzlich vernahmen sie Geräusche. Ungewohnte, schreckliche Laute, die ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Sie blickten sich um.
»Wo ist Liam?«, fragte Erin besorgt.
»Ich weiß es nicht, gerade war er noch hier«, antworte James irritiert. Einen Atemzug später wurde er leichenblass. »Das Fenster, ……oh mein Gott, das Fenster!«
So schnell ihn seine Füße trugen, rannte er zurück zum Büro. An der Tür blieb er stehen. Da waren sie wieder, diese Geräusche. Nein es waren keine Geräusche, es waren Schreie. Grauenvolle Schreie:
»Oh mein Gott, es ist ein Kind. Seht doch! Jemand muss den Notarzt rufen, ……schnell!«
Wie gelähmt stand James an der Tür, nicht gewillt das Unfassbare zu begreifen. Seine Schwester schubste ihn mit aller Wucht zur Seite und rannte an das Fenster, schaute hinaus. Augenblicklich begann auch sie zu schreien, auf eine Art und Weise, die jedem mitfühlenden Menschen bei lebendigem Leibe das Herz aus der Brust riss.
»Neeeeeeiiiiiiin, Liam,……nein,…um Gottes willen …..nicht Liam………..bitte nicht!«
Erst jetzt erwachte James aus seiner Trance. Er drehte sich um, lief durch den Flur ins Treppenhaus, nahm mehrere Stufen auf einmal auf dem Weg nach unten.
Ich muss zu ihm! Ich muss zu ihm! Ich muss zu ihm!
Immer wieder hämmerten diese Worte durch sein Gehirn, ließen ihn funktionieren wie eine Maschine. Als er auf die Straße trat, sah er die Menschentraube unterhalb seiner Wohnung auf dem Bürgersteig stehen. Entschlossen rannte er hin, schob sich energisch hindurch.
»Bitte lassen Sie mich, ich bin der Vater«, erklärte er sein forsches Auftreten. Dann stand er vor ihm. Der Kleine lag zu seinen Füßen. Eine junge Frau kümmerte sich um ihn, aber James sah auf den ersten Blick, dass das vergebens war. Sein Mund öffnete sich, doch der laute Aufschrei, der aus seinem tiefsten Innern kam, blieb in seiner Kehle stecken. Die Beine knickten ihm weg, und er ging zu Boden. Die junge Frau schaute ihn verstört an. »Er ist der Vater«, sagte einer der anderen Passanten. Sie nickte bedauernd, erhob sich und trat zurück. James griff nach dem zerschmetterten Körper seines Sohnes und zog ihn in die Arme. Er nahm nicht wahr, dass Liam aus
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