Die Tochter des Hauslehrers (German Edition)
auf Emma. »Und wenn Lady W. schimpft, sag ihr, dass ich es dir unmissverständlich geboten habe.«
Die Brauen des Mädchens hoben sich: »Unmiss… was?«
Lizzie erklärte: »Schieb die Schuld mir in die Schuhe.« Sie öffnete die Tür, dann drehte sie sich noch einmal um und winkte Emma zu. »Ich sehe Sie doch morgen früh, oder?«
»Ja, ich denke schon.«
»Ich hoffe sehr, dass wir uns öfter sehen.« Lizzie lächelte. »Ich jedenfalls freue mich, dass Sie hier sind.«
Emma lächelte steif, die unschuldigen Worte des Mädchens bohrten sich wie Pfeile in ihr Herz – ich jedenfalls freue mich, dass Sie hier sind.
Ein paar Minuten später hatte das Hausmädchen Emma beim Auskleiden geholfen und war wieder gegangen, um sich um Lizzie zu kümmern. Emma war todmüde, beschloss aber, trotzdem noch Tagebuch zu schreiben, wie sie es jeden Abend tat, bevor sie die Kerze auf ihrem Nachttisch ausblies. Das vertraute Ritual würde sie hoffentlich ein wenig beruhigen. Sie kletterte ins Bett, setzte sich aufrecht hin, strich die Bettdecke über ihren Beinen glatt und stellte ihr kleines, transportables Schreibpult auf ihren Schoß. Dann schraubte sie das Tintenfass auf, tauchte die Feder ein und schrieb.
Es war sehr peinlich und unangenehm, nach unserer sorgfältigen Planung auf Ebbington Manor einzutreffen und festzustellen, dass wir völlig unerwartete, ja mehr noch, unerwünschte Gäste sind. Wenn wir unser Haus nicht bereits vermietet hätten, wäre ich versucht gewesen, auf dem Absatz kehrtzumachen und wieder nach Hause zu fahren. Aber es ist nicht mehr unser Zuhause, jedenfalls nicht für die nächsten zwölf Monate.
Hoffentlich wird Lady Weston sich mit unserer Gegenwart abfinden. Wenn nur die jüngeren Westons Papa genauso gern mögen wie Phillipund sogar Henry damals. Ich hoffe, Papa ist der Situation gewachsen, nachdem er monatelang in Apathie versunken war. Denn ich glaube, wenn die Weston-Jungen gut von ihrem neuen Lehrer sprechen, kann das Lady Weston noch am ehesten für die Idee eines Hauslehrers gewinnen, ganz zu schweigen von der Tochter des Hauslehrers. Morgen wird ein wichtiger Tag für uns sein. Ich muss tun, was ich kann, um Papa zu helfen, einen guten ersten Eindruck zu hinterlassen.
Unsere kühle Aufnahme hier wurde durch zwei unerwartete Tatsachen ein bisschen erträglicher. Erstens ist Henry Weston im Moment nicht anwesend und zweitens lebt eine junge Frau hier im Haus, von der wir nichts wussten. Sie heißt Lizzie Henshaw und ist Lady Westons Mündel, sagt sie. Ich nehme an, sie ist die Tochter einer Verwandten von Lady Weston, wahrscheinlich eine Waise, die die Westons aufgenommen haben. Ich glaube nicht, dass Phillip sie je erwähnt hat. Warum eigentlich nicht?
Jedenfalls scheint Lizzie ein sehr angenehmer Umgang zu sein, zumindest ist sie offenbar die Einzige, die sich freut, dass wir da sind. Sie ist ein paar Jahre jünger als ich, aber ich hoffe trotzdem, dass wir Freundinnen werden. Es wäre schön, eine Freundin zu haben. Normalerweise bilde ich mir nicht so schnell ein Urteil über das Wesen eines Menschen, doch in diesem Fall scheint es recht …
Plötzlich drang ein Heulen an ihr Ohr, so unheimlich, dass Emma ein Schauer über den Rücken lief. Sie erstarrte; die Feder in der Hand, saß sie mit klopfendem Herzen bewegungslos im Bett. Da war es wieder – ein schriller, klagender Laut, wie von einem Kind oder einer erschrockenen Frau oder … einem Geist. Energisch rief sie sich zur Ordnung. Mit Sicherheit gab es eine vernünftige, logische Erklärung für dieses unirdische Geräusch.
Emma schloss die Augen und lauschte. Sie hörte keinen Schrei als Reaktion auf das Heulen, sondern nur ferne Schritte, die rasch über einen Flur zu laufen schienen. Ein Diener, vermutete sie. Aber warum sollte er – oder sie – rennen, wenn nicht etwas Schlimmes geschehen war?
Dann rief sie sich ins Bewusstsein, dass sie nicht mehr in ihrem bescheidenen Haus lebte, nur mit Mrs Malloy und Nancy, die nach ihr und ihrem Vater sahen. Hier auf Ebbington Manor gab es mit Sicherheit eine ganze Armee von Dienern, die zu jeder Tages- und Nachtzeit beschäftigt waren, Feuer machten, Wasser brachten und tausend andere Dinge erledigten. Dass sie einen Diener über den Flur laufen hörte, bedeutete also nicht zwangsläufig, dass etwas passiert war.
Oder?
Plopp . Ein Tintenklecks erschien auf dem Papier ihres Tagebuchs und verfehlte nur knapp ihr weißes Nachthemd. Das genügte, um Emma aus ihrer
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